Rezension (3/5*) zu Verräterkind: Roman von Sorj Chalandon

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Verräterkind von Sorj Chalandon
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Die zwei Seiten des "Verräterkinds"

Mir geht es wie der Erzählinstanz des Romans: der Text windet sich zwischen Fakt und Fiktion, Detail und großem Ganzen, Vergessen und Erinnern, Schuld und Taten, die in ihrer Monstrosität und Nachwirkung unvergleichlich sind. Sorj Chalandon schreibt gegen das Abmildern, Achselzucken, von der Schulter wischen und Abstumpfen an – und er tut dies auf teilweise sehr eindrückliche und unnachahmliche Weise. Teilweise, weil der Roman sich grob in drei Handlungspartien gliedern lässt, die in ihrem Wirkungspotenzial unterschiedlich stark sind und so beim Leser einen unterschiedlichen Nachklang entfalten.

Der Roman beginnt mit dem Besuch der Erzählinstanz im Kinderheim von Izieu, welches während der deutschen Besatzungszeit jüdische Kinder beherbergte, die alle 1944 nach Auschwitz deportiert und dort getötet wurden. Das Erleben des Erzählers ist so persönlich, so unmittelbar, die ländliche Umgebung des Heims in so deutlichem Kontrast zu dem Leiden und Sterben der Kinder, dass der Leser sofort von der Geschichte eingefangen wird.

Nach diesem sehr starken Auftakt beginnt die Auseinandersetzung des „Verräterkinds“ mit seinem Vater, einem windigen, undurchsichtigen Opportunisten, der sich während des Krieges wiederholt in den Dienst der deutschen Besatzer stellte, seinem Sohn gegenüber aber ein völlig anderes Bild von sich zeichnete. Der Erzähler begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit, sammelt Dokumente und konfrontiert seinen Vater, doch dieser entgleitet dem Sohn immer wieder. Dieser Handlungsstrang leidet unglücklicherweise darunter, dass der Erzähler wirklich jedes Staubkörnchen aus der Vergangenheit seines Vaters umdreht – und dies nicht nur einmal. Bisweilen entsteht der Eindruck, dass Tagesabläufe mehrfach minutiös durchgegangen werden, allerdings ohne zu irgendeiner großen Erkenntnis zu führen. Stillstand, Redundanz und auch Langeweile sind das kennzeichnende Merkmal dieser Passagen, mitunter holte mich auch das ein oder Déjà-vu ein oder ich litt unter Verwirrung, bei welcher Organisation der Vater nun gerade sein Auskommen sicherte – da half auch das wirklich exzellente Glossar am Ende des Romans nur bedingt weiter. Leider ist der Handlungsstrang der Vater-Sohn-Beziehung – wie der Titel des Romans bereits andeutet – sehr raumgreifend und mit dem anderen Hauptstrang des Textes eng verwoben.

Dieser wiederum ist exzellent und berührt den Leser tief und nachhaltig. Parallel zum Versuch der Demaskierung des Vaters schildert der Erzähler den Gerichtsprozess gegen Klaus Barbie 1987, den er als Reporter begleitet und beobachtet.
Die Gerichtsszenen, die Aussagen der Zeugen, die Reaktionen der Anwälte, des Angeklagten und der Anwesenden werden ausgezeichnet dargestellt, sie entfalten eine große Kraft und Wirkung und führen dazu, dass man den Roman so manches Mal unterbrechen muss, weil die Darstellung so eingängig ist. In den Gerichts-Kapiteln ist der Roman so groß wie der Beginn es erwarten ließ, getrübt wird die Lektüre tatsächlich durch die Tatsache, dass man dem Handlungsstrang des Vaters ab einem gewissen Punkt kaum noch Interesse entgegenzubringen vermag.

So ist der Roman für mich ein wenig zwischen Großartigkeit und Banalität gefangen. Die Bedeutsamkeit des Themas steht außer Frage, aber bei der Umsetzung des Vater-Sohns-Konflikts und der Diskussion eines Lebens mit der Last und dem Erbe des Verrats hätte ich mir weniger die sehr dominante Aufzählung von „Fakten“ und Stationen gewünscht, sondern vielleicht eine stärker auf die ethische und philosophische Problematik ausgerichtete Sichtweise.


 
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