Rezension (3/5*) zu Tristania von Marianna Kurtto

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
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Essen
Unter der Sprache verschüttet blüht eine Geschichte

Der Leser ist in dem Roman „Tristania“ an einem extrem abgelegenen Ort der Welt: in Tristan da Cunha, einer vulkanischen Insel mitten im Atlantik, vom südlichen Afrika fast so weit entfernt wie von Südamerika, und doch gehört die Insel zu Europa, genauer gesagt zu Großbritannien, auch heute noch. Hier lebt eine überschaubare Anzahl von Menschen, die auf Grundlage dieser Abgelegenheit eine enge, und doch spröde Gemeinschaft bilden. Unterschiedlich gehen die Menschen mit der Einsamkeit und Abgeschiedenheit von der Welt um. Die einen gehen auf in der Konzentration auf die direkte Umwelt und die berauschende Natur, die anderen zieht es hinaus, spüren die Anziehungskraft vorbeifahrender oder sogar anlegender Schiffe. Die Beziehungen der Menschen zueinander sind einerseits geprägt von großer Nähe und Gemeinsamkeiten, andererseits spiegeln sie aber auch irgendwie die Alternativlosigkeit von Verbindungen miteinander wider. Diese Stimmung gibt der Roman sehr intensiv wieder, ohne sich aber den Personen wirklich zu nähern. Sie bleiben für den Leser kühl und fremd in dieser kühlen und faszinierenden Umgebung.
Das Schicksal vor allem von Lars und Lise wird geschildert. Lars ist einer derjenigen, den es hinaustreibt. Lise ist eine derjenigen, die sich mit der alternativlosen Partnerwahl arrangiert hat und ihren Mann ungern, aber widerspruchslos ziehen lässt, wenn er wieder mal ein Schiff besteigt, um in Großbritannien den Handel der Insel zu organisieren. Denn sie ist mit der Insel tief verwurzelt und kann keine Anziehungskraft des Außen verspüren oder sie sich auch nur vorstellen. Doch Lars sieht diese Alternative immer wieder überdeutlich und sie wird für ihn zur Realität, als er in London die Blumenhändlerin Yvonne kennenlernt. Es entwickelt sich eine Beziehung, die Lars in London festhält und seine Kleinfamilie in Tristan allein zurücklässt. Von nun an steht Lars permanent vor der Wahl zwischen einem Leben mit Yvonne oder einer Rückkehr zu Lise, und das ist nicht nur eine Frage nach der richtigen, geliebten Frau, sondern eine Frage nach dem Lebensentwurf und der Möglichkeit, Abgeschiedenheit auf dem Level von Tristan wählen und leben zu können.
Das ist die Situation, als in Tristan der Vulkan ausbricht und die Insel evakuiert werden muss. Bei der Evakuierung gehen drei Einwohner der Insel verloren und werden deshalb zurückgelassen. Einer davon ist Lars und Lises Sohn Jon, ein schwieriger, etwas autistisch wirkender Junge, der inmitten des Zwiespalts seines Vaters – Heimatverbundenheit und Fernweh – lebt und in diesem Zwiespalt offensichtlich in Leid lebt. Lise wird nach Südafrika evakuiert und wartet dort mit den anderen Tristanern darauf, wohin die Reise weiter geht – zurück oder zu einer neuen festen Station im Leben. Für alle Tristaner ist das eine Entscheidung, die sie wegführen könnte von ihrem so komplett anderen Leben als dem, was sich ihnen an Neuem bieten könnte. Für Lise aber ist das zusätzlich eine Entscheidung, die sie vor dem Hintergrund des auf Tristan noch zurückgebliebenen Sohnes Jon treffen muss.
Als Lars von der Naturkatastrophe und dem Verbleib der Tristaner erfährt, gibt ihm das den entscheidenden Anstoß zur Entscheidung für seine Familie. Doch da ist auch noch Martha, die Lehrerin auf Tristan, über der eine dunkle Geschichte der Vergangenheit liegt. Und die die Beziehung zwischen Lars und Lise auf nicht offen erklärte Art und Weise mitprägt. Aber dazu sei hier in der Rezension nicht mehr gesagt….
Mit einem Fazit zu dem Roman tue ich mich sehr schwer. Ich mag die Geschichte, die Ortsauswahl und die Figuren sehr. Ich sehe auch durchaus die Qualität der Sprache in diesem Roman, die deutlich erkennen lässt, dass die Autorin auch oder vornehmlich Lyrikerin ist. Auf der anderen Seite aber war es für mich so, dass diese lyrische Qualität des Romans ihm auch nicht immer gutgetan hat. Ich fühlte mich oft, als wäre ich in den Tiefen der Sprache eingesunken und verlor mich irgendwo in diesen Tiefen, wobei ich die handelnden Personen, die Handlungsorte und die Geschehnisse irgendwie aus dem Blick verloren habe. Dabei hatte das alles so viel zu bieten: dieser abgelegene Handlungsort voller interessanter Charaktere und Landschaften, die Zerrissenheit zwischen zwei Frauen bei Lars, die gleichzeitig die Zerrissenheit zwischen zwei Orten und Lebensweisen war. Die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit. Die drohende Natur. All das hat mich viel mehr interessiert als mir der Roman letztlich tatsächlich gegeben hat und den Grund für dieses Defizit sehe ich irgendwie in dieser - ich nenne es mal - "überambitionierten" Sprache. Schade. So gebe ich nur gute 3 Sterne. Es hat für mich einfach nicht funktioniert.