Rezension (3/5*) zu Tristania von Marianna Kurtto

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Wenn die Sprache in jedem Satz Purzelbäume schlägt

Der Debütroman der finnischen Autorin Marianna Kurtto „Tristania“, findet an einem ganz ungewöhnlichen Schauplatz statt. Alles dreht sich um eine kleine 250 Seelen zählende Inselgemeinschaft auf Tristan da Cunha, die abgelegenste bewohnte Insel der Erde. Besonders im Fokus der Romangeschehnisse im Jahre 1961 stehen zwei Ehepaare bzw. ein Kind. Das eine Paar lebt getrennt, seit Lars der Ehemann und Vater sich nach Großbritannien abgesetzt hat und Lise mit ihrem Sohn Jon auf der Insel zurückgelassen hat. Die Nachbarin Martha blieb bisher in ihrer Ehe mit Bert kinderlos und hat ein massiv prägendes Ereignis in ihrer Vergangenheit, welches noch heute ihr Leben beeinflusst. Zu Beginn hat man als Leserin noch das Gefühl alle Protagonist:innen gut einschätzen zu können, jeder hat seinen Platz in diesem Plot. Jedoch mit dem (historisch belegten) drohenden Vulkanausbruch in 1961 kommt nicht nur Lava aus dem Inneren der Erde ans Tageslicht, sondern auch einige Geheimnisse der Inselgemeinschaft.

Der Roman glänzt eindeutig durch die Wahl der Autorin für das Setting ihrer durch dramatische Ereignisse ausgelöste Kaskaden an menschlichen Offenbarungen. Nicht nur die im Laufe des Buches immer mehr offenen Verstrickungen der Inselbewohner bietet viel Potential, sondern auch die Örtlichkeit dieser (mir zumindest bis dahin) unbekannten Inselgruppe aber auch die zeitliche Einordnung in den 1960er Jahren. Leider wurde mir dieser ungewöhnliche Handlungsort nicht so nahe gebracht, dass sich tatsächlich vor meinem inneren Auge das Romangeschehen ausbreiten konnte. Hier musste ich an Hanya Yanagiharas „Das Volk der Bäume“ denken, welches sich zwar inhaltlich ganz woanders jedoch sowohl zeitlich als auch örtlich (bezogen auf eine abgelegene Inselgruppe) in einem ähnlichen literarischen Bereich bewegt. Das genannte Buch entführte mich bei der Lektüre vollständig in dieses Setting. Kurtto gelang dies leider nicht. Ebenso hatte ich bei der Lektüre mitunter Probleme das Personal auseinanderzuhalten und den Geschehnissen folgen zu können. Mit den Protagonist:innen bin ich bis zum Schluss nur bedingt warm geworden.

All diese Probleme haben meines Erachtens ihre Wurzel in der überambitionierten Sprache der Autorin. Diese nutzt poetische Sprachbilder einfach in einem für mich massiven und nervigen Übermaß. Die Autorin kann definitiv sehr gut schreiben, damit aber nicht haushalten. Die dauernde Überfrachtung der Sprache zerrt an der Aufmerksamkeit der Lesenden. Es wird schwer sich beim Lesen sowohl auf den Plot als auch die Sprachbilder zu konzentrieren. Am Ende leidet beides darunter. Durch genutzte Sprachbilder sollten Aussagen deutlicher und klarer werden. Aber durch das Zuviel davon verschwimmen nicht nur die Aussagen sondern die eigentliche Essenz der Handlung und der Personen. Hier ein beispielhafter Absatz mit allein fünf Sprachbildern, anhand welchem man erkennen kann, dass bei Marianna Kurttos Sprache annähernd jeder Satz Purzelbäume schlagen muss:

S. 52: „Es wird Oktober, der Frühling flimmert, das Tussock-Gras flattert im Wind wie die Haare eines Riesen [Nr. 1]. Martha kneift die Augen zusammen und sieht vor sich die Zukunft als Augenblicke, die dicht nebeneinander leuchten wie Perlen [Nr. 2] - sie wird sie von Bert bekommen, sie wird von ihm alles bekommen, und die bösen Träume werden tief in den Bauch des Vulkans rinnen [Nr. 3]. Dort werden sie verbrennen, sich an den Rändern ringeln wie alte Fotos [Nr. 4], die niemand mehr anschauen will. Martha wird den Kopf ihres Kindes streicheln, weich wie Schafwolle [Nr. 5].“

Obwohl das Personal sich zahlenmäßig noch in Grenzen hält, fiel es mir mitunter schwer die einzelnen Personen auseinanderzuhalten. Meines Erachtens liegt der Grund in den sehr ähnlich oder gar fast gänzlich gleich klingenden Perspektiven der Charaktere. Jedes Kapitel ist mit einem Personennamen überschrieben. Dieser Person wird in dem entsprechenden Kapitel gefolgt. Die Autorin wechselt hier zwischen personaler und Ich-Erzählperspektive hin und her. Wenn die personalen Perspektiven noch nachvollziehbar in der Sprache der Autorin Marianna Kurtto ausformuliert sein können, so sollten die Ich-Erzählperspektiven jedoch Eigenarten der einzelnen Personen herausarbeiten. Das geschieht kaum bis gar nicht. Das Prinzip, nach welchem Kurtto manchen Personen eine Ich-Perspektive und anderen nicht zugesprochen hat, ist mir bis zum Schluss verschlossen geblieben.

Nachdem über weite Strecken das Verwirrspiel der Charaktere und deren dunkle Vergangenheit mit der parallel angelegten drohenden Naturkatastrophe sehr gut konstruiert ist, wirkte mir das Ende des Buches dann doch zu „überzufällig“ konstruiert. Die Autorin hatte mich ab einem bestimmten Kipppunkt einfach verloren.

Schlussendlich handelt es sich hierbei durchaus um einen lesenswerten Roman. Man sollte jedoch wissen, auf was man sich sprachlich einlässt. Wer nicht von vornherein allein bei der Erwähnung von lyrisch-poetischer Sprache im Übermaß in Euphorie ausbricht, sollte zumindest vorab sich eine Leseprobe anschauen, um einschätzen zu können, ob er oder sie mit dem Stil von Kurtto zurechtkommt. Ich werde zukünftig eher einen Bogen um die Autorin machen.