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Erzählungen aus der Welt der bildenden KunstIngo Schulze muss ein Kunstkenner sein. Offensichtlich wird er häufiger um Stellungnahmen, Essays oder andere Auftragsarbeiten aus dieser Branche gebeten. Drei ältere Erzählungen, die ursprünglich in anderem Zusammenhang veröffentlicht wurden, versammeln sich in diesem neu bei dtv erschienenen Band „Tasso im Irrenhaus“.
Die erste Erzählung „Das Deutschlandgerät“ handelt von einer ursprünglich in Venedig ausgestellten Installationsarbeit, die etwas reduziert in ein Düsseldorfer Museum überführt wurde. Der Ich-Erzähler schildert in seinem Bericht die Installation, schweift in seinen Gedanken aber zu einem von ihm hochverehrten Autor namens B.C. ab, der seiner Ansicht nach der größte Fan des Kunstwerkes ist und es dem Erzähler seinerzeit auch vorstellte. B.C. war ein DDR-Dissident, der das Land in den 1970er Jahren verlassen musste. Im Zuge der Erzählung rückt dieser in den Fokus. Er scheint ein schwieriger Typ zu sein, der wenig von Konventionen und Höflichkeitsfloskeln hält, bei anderen Kollegen genießt er einen schlechten Ruf, zumal er unter Kontrolle seiner Gattin zu stehen scheint. Im Lauf der Jahre hat der Erzähler mehrere persönliche Begegnungen mit B.C., die sein Verständnis für den aus der Heimat vertriebenen und in der BRD nicht recht heimisch gewordenen Mann wecken, dessen Meinung auf einmal nicht mehr en vogue war. Gezeigt werden auch Parallelen mit und Bezüge zum Deutschlandgerät, ebenso wie Interna aus dem Literaturbetrieb.
Die zweite Erzählung führt den Autor in die Schweiz. Er soll über das Gemälde „Tasso im Irrenhaus“ des Malers Delacroix berichten, das in einem Museum in Winterthur zu sehen ist. Schulze nimmt sich einen Tag Familienauszeit, macht einen Umweg, um das Bild live zu sehen und dokumentiert alles in seinem Notizbuch. Am Ziel angekommen wird ihm der unverstellte Kunstgenuss von einem einheimischen Ausstellungsbesucher getrübt, der Schulze ungefragt in ein Gespräch verwickelt, dem er sich nicht entwinden kann. Dennoch gibt ihm der Mann zahlreiche Denkanstöße, brilliert mit Fachwissen. Erneut werden unterschiedliche Themenbereiche geschickt miteinander verwoben. Auch eine deutliche Kritik an der vermeintlichen Neutralität der Schweiz wird interessant hergeleitet. Abgerundet wird die Erzählung durch die Heimfahrt über den Bodensee, während der sich der Erzähler wie Tasso im Irrenhaus beobachtet fühlt - alles hängt mit allem zusammen.
Ein Hospiz ist der Handlungsort der dritten Erzählung. Der Maler Johannes Grützke sucht jemanden, der über ein Bild von ihm schreiben soll. Der Autor fürchtet sich vor dem vereinbarten Termin, erwartet er doch einen deprimierten Todgeweihten vorzufinden. Stattdessen trifft er einen lebhaften, gut gelaunten Grützke von höchst eigenwilligen Besuchern umgeben an. Das Zimmer ist voll, es wird gegessen, getrunken und gelacht. Schulze fühlt sich befremdet, hatte er sich doch ein Arbeitsgespräch mit dem Künstler erhofft, das ihm als Grundlage für die bevorstehende Auftragsarbeit dienen könnte… Es macht Spaß, den Dialogen der Besucher zu folgen. Sie foppen sich gegenseitig, spielen die Kunst gegen die Literatur aus, deren Vertreter Schulze ist. Man philosophiert, wirft sich Gedanken zu, führt sie weiter aus, befeuert durch den Kranken. Auch hier gibt es eine Ebene hinter dem Offensichtlichen zu entdecken, mich erinnert die surreale Situation im Hospiz an Grützkes Kunst, der auch mit Vorliebe verzerrte, seltsame Figuren ins Zentrum rückt und nur versteckte Hinweise auf weitere Inhalte zeigt Zudem werden Grützke zugeordnete Aussprüche in den Text eingebaut, was ihm Authentizität verleiht.
Ingo Schulze versteht es meisterhaft, seine Erzählungen zu entwickeln. Er überrascht mit unvorhergesehenen Verknüpfungen und Entwicklungen. Man darf sich nicht auf das Offensichtliche verlassen, er fordert uns zum Nachdenken auf, zum Interpretieren, zum Blick zwischen die Zeilen auf weitere Ebenen. Kunstliebhaber werden gewiss begeistert sein.
Ich selbst habe das Buch gelesen, weil ich Ingo Schulze sehr schätze. Ich habe mich zuvor nicht mit der Thematik der gesammelten Erzählungen beschäftigt, was ein Fehler war, weil ich ein bekennender Kunstbanause bin. Die Beschreibungen der eigentlichen Werke sind zwar durchaus gelungen, interessiert haben sie mich nicht. Fesselnder empfand ich das Drumherum, die Geschichten, die sich im Zusammenhang mit der Betrachtung der eigentlichen Werke ergaben. Diese zeugten von großer Beobachtungsgabe, Intelligenz und Menschenkenntnis. Schulze verfügt über große Allgemeinbildung, hat einen wunderbaren Stil und kann viele verschiedene Themen bedienen, was er auch in diesem Erzählband unter Beweis stellt. Er verknüpft die Kunst mit dem Alltäglichen, mit politischer oder gesellschaftlicher Kritik und natürlich mit der Literatur, seiner Profession.
Obwohl ich anerkennen muss, dass die Erzählungen qualitativ gut gemacht sind, haben sie mich in großen Teilen gelangweilt. Zu fremd ist mir die Welt der Kunst und deren vermeintliche Faszination. Wer sich dort aber mehr zu Hause fühlt, wer gerne in Museen verweilt oder sich Ausstellungen (moderner) Künstler anschaut, wird den Beschreibungen Schulzes bestimmt mehr abgewinnen können und einen leichteren Zugang finden.
Insofern kann ich persönlich nur eine eingeschränkte Leseempfehlung aussprechen.
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1984
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