Rezension (3/5*) zu Spitzweg von Eckhart Nickel

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Spitzweg von Eckhart Nickel
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Alles durchdacht, das Uninteressante interessant

Der Schüler Carl trägt altmodische Sockenhalter und kredenzt seinen Freunden in seinem dekadenten kleinen ‘Kunstversteck’ Madeira, After Eight und Edelzigaretten. Er hält mäandernde Monologe über Kunst, Musik und Literatur, wirft mit Zitaten und cleveren Anspielungen nur so um sich und pflegt eine blasierte pseudo-bescheidene Herablassung.

Lange fiel es mir schwer, den Roman zu ‘verzeitlichen’, da Carl in seinem ekzentrischen Habitus genauso gut vor 150 Jahren hätte leben können – tatsächlich befinden wir uns indes im 21. Jahrhundert. Hier wird jugendliche Rebellion quasi umgedreht, und das hat augenzwinkernd-amüsante Momente: Rückkehr zum Biedermeier statt provokanter Kleidung oder Piercings.

Die verschämte Anbetung des Erzählers eines selbsterklärten Kunstbanausen, der das Gefühl hat, bei soviel weltgewandter Bildung gar nicht mithalten zu können, ist Carl gewiss und wird von ihm gönnerhaft anerkannt. Mehr als einmal nennt er den Erzähler »mein Schüler, mein Geschöpf«, wenn der etwas Kluges von sich gegeben hat, und beansprucht den vermeintlichen Verdienst so für sich. Komplettiert wird diese seltsame, ungleichgewichtige Freundschaft durch die Mitschülerin Kirsten, eine überaus begabte Künstlerin, die von der Kunstlehrerin durch ein doppeldeutiges Lob bloßgestellt wurde: Kirstens Selbstporträt sei gelungen und zeuge von einem »Mut zur Hässlichkeit«. Autsch.

Ein Affront, findet Carl, dieser »Schlachtruf der Unbarmherzigkeit« schreie nach Rache. Kurzerhand ersinnt er einen Plan, ohne Kirsten erstmal zu fragen, ob die das überhaupt will. Geht es hier überhaupt um sie, oder ist dies nur eine weitere Gelegenheit für Carl, seine Intelligenz und seine gepflegte Überlegenheit zu demonstrieren?

Nach kurzem Widerstand willigt Kirsten ein ihren Selbstmord vorzutäuschen, indem sie ins Kunstversteck ‘verschwindet’ und nur ein von ihr angefertigtes Gemälde hinterlässt: eine zum Selbstbildnis abgewandelte Kopie des berühmten Gemäldes ‘Ophelia’ von John Everett Millais, das Hamlets tragische Geliebte zeigt, wie sie vor ihrem Ertrinken im Fluss treibt. Sicherlich wird die Kunstlehrerin nur einen Blick darauf werfen, sofort die Bedeutung erkennen und von Schuldgefühlen überwältigt werden! (Angemerkt sei, dass Kirsten solch ein meisterhaftes Gemälde anscheinend in wahrer Rekordzeit bewältigen kann.)

Dieser Plan hat gravierende Lücken, gerät schnell auf Abwege. Das wäre angesichts des jugendlichen Alters der Verschwörer und der damit einhergehenden unvermeidlichen Selbstüberschätzung sicher zu verschmerzen, doch werden die Möglichkeiten dieses Handlungsstranges in meinen Augen nicht voll ausgeschöpft. Die Handlung löst sich hier für mein Empfinden etwas zu sehr von der Reflexion, so dass die wunderbar gewiefte Wechselwirkung zwischen dem ‘was’ und dem ‘warum’ ein wenig verloren geht.

Übrigens: Eine Schülerin verschwindet, ein Selbstmord ist zu befürchten, und niemand ruft die Polizei? Hmm. Überhaupt bleiben Geschehnisse hier des Öfteren ohne Konsequenzen, dafür enden manche Entwicklungen abrupt und unerklärt.

Woran ich immer wieder verzweifelte das war Carls geradezu performativ zur Schau getragene Bildung, augenscheinlich ermöglicht durch Privileg und Wohlstand. Das hat einen Beigeschmack von Gatekeeping, sieht man den Erzähler doch geradezu verzweifelt danach haschen, in Carls Augen ‘gebildet genug’ zu sein. Zwar wird dies abgemildert durch feine Ironie, durch einen altmodisch verbrämten, an Heinz Rühmann erinnernden Humor, und doch, und doch … Immer wieder beschlich mich die Frage nach der Zugänglichkeit: Wer kann diesen Roman lesen, wer kann sich an den zahlreichen kleinen ‘Ostereiern’ erfreuen, wer klappt das Buch zu mit einem frustrierten Gefühl der Unzulänglichkeit?

Ich selber habe das Privileg genossen, an einem humanistischen, altsprachlichen Gymnasium mein Abitur gemacht zu haben, inklusive Großem Latinum. Damit bewege ich mich zumindest ein Stück weit in Carls Sphären, aber gerade deshalb kam mir immer wieder der Gedanke: So kunstsinnig und edel spricht kein Jugendlicher, gebildet oder nicht. (Was in geringerem Ausmaße auch für Kirsten und den Erzähler gilt.) Über lange Strecken des Buches wird Carl in meinen Augen daher zum Inbegriff der Künstlichkeit – nicht mal mehr literarische Kunstfigur, nur noch pure selbstherrliche Manieriertheit.

…oder? Ist das verbose Selbstdarstellung? Ist das verzweifelt nach außen getragene Sinnsuche?

Diese Ambivalenz ist sicher Absicht, zwingt Leser:innen jedoch, die Geschichte stets aus kritischer Distanz zu verfolgen, was sie meines Empfindens einer möglichen emotionalen Ebene beraubt. Das Emotionale tritt deutlich zurück hinter dem Intellektuellen – also der Domäne, in der Carl sich sicher und in Kontrolle fühlt.

Zugegeben, hinter den ganzen aus der Zeit gefallenen Formulierungen verstecken sich überaus interessante Gedanken zu Kunst und Natur, Künstlichkeit und Natürlichkeit im abstrakteren Sinne, Identität zwischen Selbstaufgabe und Selbstsucht. Und natürlich verneigt sich der Roman auch vor Carl Spitzweg, weckt die Lust der Leser:innen, sich eingehender mit seiner Kunst zu beschäftigen.

Als Aufstand gegen die schnelllebige, oberflächliche Selfie-Kultur der Gegenwart wenden sich die Mitglieder unseres jugendlichen Triumvirats der Vergangenheit zu, verweigern sich damit auch einer Gegenwart, der sinngebende Strukturen zum Opfer fallen. Gemeinsam haben die drei Jugendlichen wohl nicht von ungefähr die Dekonstruktion ihrer Familien, insbesondere durch abwesende Elternteile. Dieser Verlust jeden sicheren Halts wird in einer späteren Schlüsselszene noch einmal bildlich dargestellt, als eine Figur aus einem Gemälde herausgeschnitten wird und nur noch eine geradezu eloquente Leerstelle hinterlässt. In der Kunst finden sie sich wieder, hier suchen sie nach dem schmerzlich vermissten Sinn.

Fazit

Ein gebildeter junger Lebemann, wie aus der Zeit gefallen. Ein Kunstbanause, bezaubert und dennoch verunsichert. Eine Künstlerin, die aufs Schmählichste beleidigt wurde. Alle drei gehen noch auf die Schule, kommen zusammen in einem Racheplot, der mit der Vortäuschung von Selbstmord beginnt und mit einer Verfolgungsjagd im Museum eine unerwartete Wendung nimmt. Das spielt in der Gegenwart, entzieht sich jedoch der Oberflächlichkeit einer zusehends sinnentleerten Gesellschaft. Das ist raffiniert, originell, intelligent geschrieben, gehaltvoll. Das ist ein echter Bildungsroman, der dich herausfordert und dabei doch unterhält.

Aber.

Ja, leider gibt es für mich ein ‘Aber’ – ein ureigenes, höchstpersönliches. Für mich ist Carl der Schlüsselcharakter, mit dem alles steht und fällt. Und auch wenn sein Gebaren der Rebellion gegen eine digital regierte, sozial verkümmerte Welt entspringt, spricht daraus doch die übersättigte, prätentiöse Arroganz eines in der Vergangenheit verwurzelten Bildungsbürgertums. Das wird aufgebrochen durch spöttische Ironie und einen zunehmend magisch-realistischen Handlungsverlauf, und dennoch wirkte die detailverliebte Zuschaustellung von Bildung auf mich zunehmend ermüdend – und zunehmend künstlich. Ich hatte mit jeder Seite mehr das Gefühl, dass das genüssliche Geflecht der vielen, vielen Querverweise weniger anregend auf mich wirkte als vielmehr erdrückend.

Gleichwohl möchte ich meine Anerkennung dafür aussprechen, wie gekonnt Eckart Nickel diese Geschichte konstruiert hat. Ich verneige mir vor diesem filigranen und dennoch tiefgründigen Wechselspiel von Gesellschaftssatire, Kunstgeschichte und schierer Sprachkunst.

Aber.

Da ist es wieder, das vermaledeite ‘Aber’. Aber das Buch wollte für mich im Endeffekt wohl einfach nicht zünden.


von: Fredric Kroll
von: Josef H. Reichholf
von: Philip Gwynne Jones