Rezension Rezension (3/5*) zu Rote Kreuze von Sasha Filipenko.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
5.869
7.759
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Eine Biografie der Angst...


Alexander ist ein junger Mann, dessen Leben brutal entzweigerissen wurde. Tatjana Alexejewna ist über neunzig und immer vergesslicher. Die alte Dame erzählt ihrem neuen Nachbarn ihre Lebensgeschichte, die das ganze russische 20. Jahrhundert mit all seinen Schrecken umspannt. Nach und nach erkennen die beiden ineinander das eigene gebrochene Herz wieder und schließen eine unerwartete Freundschaft, einen Pakt gegen das Vergessen.

Alexander zieht mit seinen 30 Jahren und seiner 3 Monate alten Tochter in eine neue Stadt und in eine leere Wohnung. Er will einen Neuanfang, und da kommt es ihm entgegen, dass er in dieser Stadt nichts und niemanden kennt. Doch die 90jährige Nachbarin lädt ihn bereits an seinem ersten Tag in der neuen Wohnung zu sich ein - und hört nicht mehr auf zu erzählen.

Zunächst weiß Alexander (oftmals auch Sasha genannt) nicht, was er von der alten Dame halten soll. Sie gesteht freimütig, dass sie an Alzheimer leidet und deshalb beispielsweise mit roten Kreuzen im Haus ihren Heimweg markiert. Doch an das, was lange zurückliegt, kann sich Tatjana Alexejewna sehr wohl erinnern. Und das gibt sie hier nach und nach preis.

Auch wenn der Autor hier den Dialog zwischen zwei sehr unterschiedlichen Charakteren gewählt hat, bleibt Alexander als Figur doch recht blass. Tatsächlich geht es hier im Wesentlichen um Tatjanas Schicksal, um ihre 'Biografie der Angst'. Dabei wählt Sasha Filipenko eine sehr distanzierte Erzählweise, so dass selbst die ärgsten Gräuel kaum ein Mitschwingen beim Leser auslösen. Sowohl die Konstellation der Charaktere als auch die offenbar gewollte Distanz des Lesers zu den Figuren haben mich doch ziemlich irritiert.

Dabei wird rasch offensichtlich, welches Thema der Autor hier in den Mittelpunkt rückt: den Stalinismus und seine zahllosen Opfer, die offenkundige Willkür des Regimes und seiner Helfershelfer, die Wertlosigkeit eines einzelnen Menschenlebens, die Politik der Unterdrückung und der Angst, gleichzeitig auch die Verherrlichung des Diktators im Volk - etwas, das sich bis in die heutige Zeit zieht und deshalb das aktive Vergessen all der Gräuel des Stalinismus unterstützt. Der Autor setzt sich dagegen mit seinen Mitteln zur Wehr und pocht darauf, sich dem Vergessen entgegen zu stemmen.

Ein lobenswerter, ein wichtiger, ein angesichts von Putins rückwärts gewandter Politik auch mutiger Ansatz. Allein die Umsetzung hat mir nicht zugesagt. Auch Alexander hat einen schweren Schicksalsschlag hinter sich, der jeden schwer traumatisiert zurücklassen würde. Doch angesichts von Tatjanas Odyssee der Angst verblasst dieses persönliche Drama sofort und spielt im Verlauf auch kaum noch eine Rolle.

Es mag sein, dass der Autor verdeutlichen wollte, dass das schreckliche Schicksal eines Einzelnen nichts wiegt im Verhältnis zu den Massen, die unter Stalin der Willkür ausgesezt waren und leiden mussten. Es mag sein, dass Tatjana einfach einen Zuhörer der übernächsten Generation brauchte, damit ihre Geschichte nicht verloren geht - und dazu jemanden, der zumindest weiß, was Leid bedeutet. Aber das Größenverhältnis der beiden Hauptcharaktere hinkt doch gewaltig. Die Geschichen der beiden Nachbarn stehen noch dazu auch vollkommen zusammenhanglos nebeneinander.

Mit der Art der Konzeption hatte ich auch so meine Schwierigkeiten. Die Chronologie der Ereignisse wird in kurzen oder manchmal auch etwas längeren Schlaglichtern sichtbar, herausgerissen aus dem Zeitgeschehen, kurz beleuchtet und wieder ins Dunkle gleitend. Das ist keine zusammenhängende Geschichte, sondern eine szenische Darstellung, die die Gesamtheit der erlebten Gräuel nur erahnen lässt. Die Handlungsstränge werden nicht verwoben, sondern stehen einfach neben- und hintereinander. Emotionen werden nicht wirklich transportiert, nur eine leise Gänsehaut schleicht sich dann und wann ein, weil man eine vage Vorstellung von dem bekommt, was da geschehen ist.

Dazu hat der Autor immer wieder auch Original-Schriftstücke mitten im Text eingefügt, ebenso wie etliche Gedichte. Zur Verdeutlichung und Unterstreichung des Erzählten hätten da m.E. einige wenige gereicht - in dieser großen Anzahl störte es meinen Lesefluss doch immer wieder.

Durch das angefügte Interview mit dem Autor habe ich verstanden, weshalb dieser Roman so wichtig ist - gegen das Vergessen. Dem stimme ich uneingeschränkt zu. Ich finde aber doch, dass dem Roman die Arbeit des Autors als Journalist anzumerken ist - die Fakten stehen im Vordergrund, das Schicksal von Tatjana erläutert 'nur' die Auswirkungen dessen, was da an Politik zu Zeiten Stalins betrieben wurde. Und heute...

Doch trotz aller Kritik halte ich den Roman allein schon aufgrund der deutlich zu verspürenden großen Ambition des Autors und wegen des überaus wichtigen Themas in jedem Fall für empfehlenswert. Auch Russland braucht Bücher 'gegen das Vergessen'!


© Parden


 
Zuletzt bearbeitet:
  • Hilfreiche Rezension
Reaktionen: kingofmusic

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.321
19.035
49
48
Starke Rezension und eine noch stärkere Begründung der 3*! Top! Auch wenn ich die 5* gezückt habe :cool:.
 

Beliebteste Beiträge in diesem Forum