Rezension Rezension (3/5*) zu Nachhall einer kurzen Geschichte von Albers, Dorothée.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Chronik einer zerrissenen Musikerfamilie

Die Empfehlung zu diesem Buch entstammt dem Podcast des Radiosenders BR3, den ich sehr schätze. Immer wenn es um (klassische) Musik geht, werde ich gleich angefixt. Der Karl Rauch Verlag hat dieses Buch wunderschön gestaltet: der Einband in lindgrüner Crashoptik mit Klaviertasten auf dem Cover, wollweißes Vorsatzpapier mit passendem Lesebändchen – ein Hingucker!

Das Buch ist in drei mehr oder weniger selbstständige Teile aufgeteilt, wie die Sätze eines Klavierkonzerts auch. Im ersten Teil lernen wir Namensgeberin Jet Ende der 50er Jahre kennen. Sie entstammt der streng katholischen Familie Hamelink und studiert Klavier am Konservatorium. Die Musik bringt sie mit dem jüdischen Cellisten Zev zusammen. Die beiden müssen ihre Liebe allerdings vor den strengen Eltern geheim halten. Nach einem leidenschaftlichen Nachmittag wird Jet schwanger. Die Eltern lösen das Problem, indem Jet in ein Kloster gebracht und dort von dem Kind entbunden wird. Die Liebenden versuchen zwar, schriftlich im Kontakt zu bleiben, werden letztlich aber doch getrennt, was eine lebenslange Wunde hinterlässt. Es gelingt Jet ein neues Leben zu beginnen, am Ende hat die Heimlichkeit allerdings dramatische Folgen.

Der zweite Teil ist nach Jurre benannt. Er ist Jets Sohn, der bei einer Bauernfamilie aufwächst und sich dort Zeit seines Lebens unverstanden fühlt. Er fühlt sich als Musiker, will nach Beendigung der Schule eine entsprechende Karriere verfolgen. Sein Instrument ist das Saxofon, seine Musik der Jazz. Insbesondere sein Vater hat für derlei Spinnereien kein Verständnis, sondern wünscht sich, dass der einzige Sohn den Hof übernimmt. Nach einer deutlichen Aussprache verlässt Jurre den Hof, hält nur noch mit seiner Mutter den Kontakt. Es gelingt ihm, sich mit der Musik und zahlreichen Nebenjobs über Wasser zu halten. Seine Mutter jedoch baut ab, leidet an einer frühen Form der Demenz. Bei einem Besuch findet er seine Geburtsurkunde und fängt an, seine wahren Wurzeln zu suchen.

Der dritte und kürzeste Teil ist mit Fine überschrieben. Sie ist die Tochter Jurres und hat einen Zwillingsbruder. Fine spielt Cello, sie ist aber unsicher, ob die Musik ihr Weg ist. Sie wünscht sich Bestätigung vom Vater, der ihr aber freie Hand lassen möchte und nicht gerne über klassische Musik spricht. Außerdem fühlt sie sich ihrem talentierten Bruder unterlegen. Sie steht vor der Entscheidung, ob sie die Musik zum Beruf machen soll oder nicht.

Die drei Teile lassen sich im Grunde völlig unabhängig voneinander lesen, auch das haben sie mit der Struktur klassischer Werke gemein. Ab und zu blitzt ein Verbindungsstück auf, wird aber nicht weiter verfolgt. Als Grundthemen würde ich die Suche nach der eigenen Identität, nach der Berufung bei allen drei Protagonisten ausmachen. Des Weiteren geht es um Herkunft und die Wurzeln: Die Gene lassen sich auch in einem völlig anderen Umfeld nicht verleugnen, sondern werden weiter getragen von Generation zu Generation – da hilft alles Verschweigen nichts.

Der Roman hat einen recht konventionellen Stil, das meine ich aber keineswegs negativ. Freunde von Familiengeschichten werden möglicherweise begeistert sein, Musikfreunde umso mehr. Mir persönlich fehlte das gewisse Etwas, das Ungesagte, das Geheimnisvolle. Auch mit der Demenz der Mutter Jurres scheint mir einfach ein aktuelles Thema eingeflochten worden zu sein, das hat etwas von Schreibstube.

Der erste Teil hat mich am meisten berührt und ich habe es bedauert, dass er nur ein leises Echo im weiteren Verlauf fand. Vermutlich bin ich mittlerweile zu anspruchsvoll geworden. Das Buch ist aufgrund seiner wunderbaren Haptik bestens als Geschenk geeignet. Wer einfach lesen möchte, um dem Alltag zu entfliehen, wird seine Freude an dem Roman haben. Ebenso Leser, denen „Die Geschichte der Bienen“ von Maja Lunde oder „Der Zopf“ von Laeticia Combani gefallen haben. Insofern spreche ich durchaus eine Leseempfehlung aus. Das Buch ist gut, hat meine persönlichen Erwartungen allerdings nicht erfüllt.





 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie man dieses Buch als Historischen Roman eingruppieren kann, das erschließt sich mir nicht. Als klassische Familiengeschichte setzt es 1959 ein und endet in der Gegenwart :(
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich bin ganz bei dir mit dieser Einschätzung und stelle mir die Frage, was die Autorin eigentlich genau erzählen wollte und ob sie die Schwerpunkte nicht besser anders gesetzt hätte. Der erste, längste und - sehe ich genauso - bewegendste Teil handelt von einer schweren lebensgeschichtlichen Krise - man muss wohl von Trauma sprechen -, und ihren Auswirkungen auf die musikalische Karriere der Protagonistin, auf ihren Zugang zur Musik überhaupt. Der zweite und der dritte Teil handeln ebenfalls von Krisen aufstrebender Musiker, aber bei weitem nicht von vergleichbarem Gewicht. Und entsprechend hat man denn auch bei den Überlegungen und Konflikten der Hauptpersonen das Gefühl schleichender Banalität.
Das würde in anderem Umfeld sicher anders wirken; es kommt halt dadurch, dass der Vergleich mit dem ersten Teil nicht ausbleiben kann.
Vielleicht ging es der Autorin gerade darum, aufzuzeigen, wie sich Schockerlebnisse und schwere Konflikte auf die Entscheidung auswirken, ob und wie man Musik macht. Besonders im letzten Teil klingt dieser Aspekt ein wenig an. Aber vielleicht lese ich das auch bloß hinein. Insgesamt ist das ein merkwürdig unentschlossenes Buch. Aber stillistisch gefällt es mir sehr, und die Aufmachung ist wirklich schön - das Grün natürlich im Regal ein bisschen grell, aber dafür hat man es auch sofort wieder gefunden, wenn man nochmal was nachgucken will ...
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Besonders im letzten Teil klingt dieser Aspekt ein wenig an. Aber
Ich denke, es ging ihr auch um die Genetik. Sie will zeigen, dass du deine Wurzeln nicht verleugnen kannst. Ich meine, mir war die Adoptionsfamilie auch recht plump und stereotyp erschienen. Man hätte aus dem ersten Teil etwas machen können, da bin ich komplett deiner Meinung. Potential nicht ausgeschöpft leider. Hab Dank für deine umfassende Meinung! Ich hatte wirklich Bedenken, dass ich da irgendeinen Anschluss verpasst hätte, weil ich mich den BR Lobeshymnen so gar nicht anschließen konnte.
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Es machte sich bemerkbar, dass die Stiiernackigkeit dieses "Pappen" in hohem Alter eine Art Aufweichung durchmachte. Und das ist eigentlich furchtbar tragisch. Andererseits hat es ja durchaus eine Versöhnung mit dem Sohn gegeben. Ach, ich weiß auch nicht, eigentlich ist es, abgesehen von den wirklich tragischen Elementen im ersten Teil, eine rechte Seifenoper.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Immer diese Suche nach den Wurzeln ... die ich absolut nicht nachvollziehen kann. Klingt ansonsten nach wunderschöner Unterhaltungsliteratur. Nicht mehr, nicht weniger.

Autoren haben nicht immer eine Art Botschaft an den Leser. Sie suchen (nur) eine Geschichte, die trägt. Man will mit dem Schreiben Geld verdienen, was legitim ist. Dann ist man Schreiber, manche Schreiber sind zudem Künstler (das sind die, die dann eine Botschaft haben oder mit Formen experimentieren) - aber beileibe nicht alle, ja, genau genommen, die wenigsten.

Gefällt mir sehr gut, diese Rezension arbeitet das schön heraus.
In welchem Land spielt das?
 
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