Rezension (3/5*) zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Willkommen im Patriarchat...

Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag. »Lügen über meine Mutter« ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht? (Klappentext)

Vier Jahre lang (1993-1987) begleitet der/die Hörer:in die zu Beginn sechsjährige Ela in ihrem Familienleben - denn dass es sich bei der Ich-Erzählerin um das kindliche Alter Ego der Autorin handeln dürfte, daran kann wohl kein Zweifel bestehen. Vater-Mutter-Kind, eine klassische Familie also, Ort des Geschehens ist ein kleines Dorf im Hunsrück.

Doch von Familienidyll kann keine Rede sein. Die Mutter hat sich von Anfang an in alles fügen müssen. Nach der Hochzeit musste sie in das Haus der Schwiegereltern ziehen, und v.a. die Schwiegermutter macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung. Die Mutter (beide Etlern bleiben namenlos) erhält nur dann die Unterstützung ihrer Schwiegermutter, wenn sie sich wie erwünscht verhält und keine eigenmächtigen Entscheidungen trifft. Eine Zwickmühle, aus der die Mutter häufig als Verliererin herausgeht. Durch ihren Ehemann erfährt sie allerdings auch keine Unterstützung, denn als daheimgebliebener Prinz der Schwiegermutter stellt er deren Verhalten kein bisschen in Frage.

Doch immerhin hat die Mutter einen Beruf, dem sie gerne nachgeht, und dort ist sie auch anerkannt. Sie verdient sogar mehr als ihr Mann, was diesem sichtlich ein Dorn im Auge ist. Eine weitere Schwangerschaft macht allerdings alle Zukunftspläne der Mutter zunichte, und schlussendlich ist sie vollkommen an Haus und Familie gebunden. Der Vater dagegen nimmt sich ganz selbstverständlich alle Freiheiten heraus. Er bestimmt, welches Auto gekauft wird, er legt fest, wer mit in den Urlaub fährt und wer nicht (die Mutter nicht, weil sie zu dick geworden ist), er ist aktiv im Vereinsleben und angedeutet möglicherweise auch in Liebschaften. Und die Mutter erduldet.

Dass die Mutter dabei eigentlich eine starke Frau ist, erkennt Ela in verschiedenen Situationen. So setzt sie beispielsweise ein Fremdsprachenstudium durch, weil sie sich weiterbilden will - und trotzt dabei sämtlichen Widerständen von Seiten ihres Mannes und der Schwiegermutter. Auch lässt sie es sich nicht nehmen, sich um das Nachbarskind zu kümmern, das zwischenzeitlich sogar bei ihnen wohnt - auch das gegen heftige Widerstände. Und doch lässt sie sich im Alltag viel vorschreiben und sich demütigen.

Das Gewicht. Ein Thema, das sich durch den gesamten Roman zieht und an Dimension gewinnt, je dicker die Mutter wird. Appelle, Befehle, gehässige Bemerkungen vor den Ohren des Kindes, Drangsalierungen wie das Sich-Wiegen vor den Augen des Mannes - nichts lässt der Vater aus. Er macht das Gewicht seiner Frau für seinen eigenen beruflichen Nicht-Erfolg verantwortlich - er kann sich mit ihr auf keiner Weihnachtsfeier sehen lassen, einfach nur peinlich. Selbst offenbar mit großen Minderwertigkeitskomplexen und dem zwanghaften Bestreben bloß nicht aufzufallen behaftet, zeigt er zu Hause keinerlei Hemmungen. Da markiert er gerne den starken Mann. Willkommen im Patriarchat...

Was die Erzählung geschafft hat: sie hat mich empört und bedrückt. Zudem kamen Erinnerungen an die eigenen Kindheit hoch, und manche der Szenen konnte ich mir so mehr als bildhaft vorstellen. Eine doppelte Empörung also. Und auch wenn ich älter bin als die Autorin - ich glaube ungesehen, dass es diese Familienstrukturen in einem kleinen spießbürgerlichen Dorf im Hunsrück auch in den 80er Jahren noch gab. Was also ist mein Problem mit dem Roman? Das sind kurz gefasst zweierlei Aspekte.

Das eine sind die in den Text eingeschobenen essayistischen Erklärungen der Autorin aus Erwachsenensicht, um dem Verhalten ihrer Eltern mögliche Erklärungsansätze zu unterlegen. Diese wirkten auf mich allerdings zum einen oft platt und eher übergestülpt, gerade im Hinblick auf den Vater zum anderen aber auch zuweilen fast wie eine Entschuldigung. Und das habe ich nur schlecht ertragen.

Und so sehr ich mich über das Verhalten des Vaters empören konnte, so fassungslos war ich zunehmend auch über das Verhalten der Mutter. Da gibt es keine Weiterentwicklung, sie verharrt in dem Familiensystem und lässt alles über sich ergehen, auch wenn sie sichtlich leidet. Und das Kind (später die Kinder) genau zwischen den Stühlen, oftmals instrumentalisiert von einer der beiden Parteien. Gerade dass die Mutter nicht ausbricht aus dem System, vor allem nachdem sie eine größere Erbschaft gemacht hat, die in erster Linie ihr Mann dann selbstherrlich verprasst, kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Selbst als erzkatholische gebürtige Schlesierin (im Dorf: die Polin) waren die 80er Jahre doch wohl modern genug um sagen zu können: es reicht. Zumal die Mutter dem Dorfleben nie wirklich etwas abgewinnen konnte.

Durch das Verharren im Familiensystem machte es mir die Mutter dann etwa ab der Hälfte des Romans auch schwer, mich weiterhin zu empören und betroffen zu sein. Da wäre ich gerne empahtischer gewesen, aber die stetige Wiederholung ähnlich gelagerter Szenen hat seinerzeit sicher das Trauma der Kindheit von Daniela Dröscher vertieft, ermüdete mich beim Hören aber leider zunehmend. Als autobiografischer Ansatz kann das kaum verurteilt werden, denn wenn die Kindheit der Autorin so war, war sie eben so. Aber ich persönlich hatte mir hier eben einen stärkeren feministisch-emanzipatorischeren Ansatz erhofft. Vor allem, weil der Klappentext verspricht: "Vor allem aber ist dies ein tragik-komisches Buch über eine starke Frau, die nicht aufhört, für die Selbstbestimmung über ihr Leben zu kämpfen." Da kann ich nur sagen: Njeinaja.

Das Buch mit der "literarischen Mikrosoziologie aus der Kinderperspektive" ist nun nicht nur auf der Longlist des diesjährigen Buchpreises gelandet, sondern steht sogar auch auf der Shortlist. Es sei Daniela Dröscher gegönnt, allerdings ist der Schreibstil nicht hochliterarisch, sondern sehr leichtgängig zu lesen. Es muss also am Thema liegen oder an der außergewöhnlichen Perspektive? Wer weiß...

11 Stunden und 40 Minuten dauert die ungekürzte Hörbuchfassung, angenehm gelesen von Sandra Voss.

EIn Buch der Empörung, das vom autobiografischen Anteil her sicherlich Sinn ergibt, das aber in meinen Augen eine klare Botschaft vermissen lässt.


© Parden