Rezension (3/5*) zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.858
12.454
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Buchinformationen und Rezensionen zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher
Kaufen >
ein Empörungsbuch

Nähme man den Titel des Romans „Lügen über meine Mutter“ für bare Münze, müssten sich bei Daniela Dröscher, Autorin dieses Buches, die Balken biegen, was sie aber nicht tun. Denn tatsächlich lässt sich kaum bewerten, was in diesem Buch wahr oder gelogen ist.
Daniela Dröscher erzählt von ihrer Kindheit und den Personen, die ihr in dieser Zeit wichtig waren, vorausgesetzt, dass dieser Roman autobiografisch ist. Der Verdacht liegt aber nahe. Denn Ich-erzählende Protagonistin dieses Romans ist Ela (Daniela?). In ihren Kindheitserinnerungen beschränkt sie sich auf die 80er Jahre. Zu Beginn des Romans, 1983, ist Ela 7 Jahre alt, lebt mit ihren Eltern in Obach, einem Dorf im Hunsrück, zusammen mit Elas Großeltern väterlicherseits. In Obach regiert das Spießbürgertum. Die Zeit scheint in den 50er/60er Jahren stehengeblieben zu sein.
Und wie sich das für das gute deutsche Spießbürgertum gehört, ist man misstrauisch gegenüber allem Neuen und Modernen, fast schon feindselig gegenüber allem Fremden.
In diese „Idylle" gerät Elas Mutter – also diejenige, über die Lügen erzählt wird -, als sie nach der Heirat mit ihrem Mann, einem gebürtigen Obacher, aus der Großstadt hierhinzieht. In der Familienrangordnung bekleidet sie den letzten Platz. Die Schwiegermutter, ganz Obacherin, macht keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen die Schwiegertochter.
Die Ehe von Elas Eltern ist eigentlich keine. Man wundert sich, wieso die beiden geheiratet haben, denn der Alltag ist ein ständiger Kampf zwischen den Eheleuten. Einer der Reibungspunkte, wenn nicht der Reibungspunkt, ist das Körpergewicht von Elas Mutter. Für den Ehemann ist sie zu dick, was er ihr auch in jeder sich bietenden Situation vorhält. Und man wundert sich, was Übergewicht alles verursachen kann - abgesehen von allgemein bekannten körperlichen Schäden und Erkrankungen. Ein Beispiel: die dicke Ehefrau trägt die Schuld an den beruflichen Misserfolgen des Ehemannes, da sie im Kreis der Arbeitskollegen und Vorgesetzten nicht vorzeigbar ist.
Dies ist nur ein Beispiel von vielen, auf die man nur mit Kopfschütteln reagieren kann.
Auf dieser Idiotie baut nun der Roman zu großen Teilen auf und definiert die Rolle von Elas Mutter in diesem Buch: Sie ist das leidende Opfer. Wir erleben eine Frau, die die Schuld an allem trägt, die permanentem Psychoterror ausgesetzt ist, ihre Familie aber nicht verlässt - vielleicht der Kinder wegen? (Ela bekommt noch eine Schwester.)
Im permanenten Konflikt der Eltern sitzt Tochter Ela zwischen den Stühlen und wird von den streitenden Parteien für die jeweils eigene Sache instrumentalisiert.
Dieser Roman schildert zwar das Familienleben in den 80er Jahren, ist aber erst Jahre später entstanden, wodurch sich eine zusätzliche Erzählebene ergibt.
Ela ist mittlerweile erwachsen und schreibt diesen Roman mit dem Einverständnis ihrer Mutter und unter Wahrung der Privatsphäre der Familie, weswegen Elas Eltern nicht namentlich genannt werden.
Die einzelnen Kapitel, welche die Geschichte aus der Sicht des Kindes Ela erzählen, werden von gedanklichen Einschüben einer erwachsenen Ela (Daniela Dröscher?) unterbrochen, die im Rückblick ihre Kinderjahre analysiert und versucht, die Handlungsweisen ihrer Eltern im Nachhinein zu verstehen.
„Lügen über meine Mütter" ist ein Empörungsbuch. Und genau das ist mein Problem mit diesem Roman. Denn hier wird Empörung mit Spannung gleichgesetzt. Von Beginn an wird man mit den Zumutungen, Anfeindungen und Beleidigungen gegen Elas Mutter konfrontiert. Man kann nicht anders als sich zu empören. Doch irgendwann erreicht einen die seelische Tortur der Mutter nicht mehr. Denn dieses Übermaß ließ mich abstumpfen, zumal auch die von Daniela Dröscher dargestellten Handlungen und Reaktionen der Mutter zu Lasten der Glaubwürdigkeit dieser Geschichte gehen.
Warum hat nun Daniela Dröscher „Lügen über meine (ihre) Mütter" erzählt? Wobei es bei dieser Frage nicht um den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte geht, sondern um Frau Dröschers Motiv für einen derartigen Roman.
Wenn es ihr darum ging, Literatur als Therapie zu nutzen, mag ihr das gelungen sein. Die Reaktionen der Leserschaft sollten sie dabei wenig interessieren, denn schließlich geht es um ihr persönliches Seelenheil.
Wenn sie ein feministisches Motiv hatte und am Beispiel von Elas Mutter ein Frauenbild der 80er Jahre zeichnen wollte, ist ihr das leider nur im Ansatz gelungen. Denn leider sind zu viele Ungereimtheiten und offene Fragen in diesem Buch, die mich an dem, von Daniela Dröscher dargestellten Frauenbild zweifeln lassen.
Irgendwo in diesem Buch bekennt sich Daniela Dröscher zu dem Motiv der Verarbeitung ihrer seelischen Probleme, die aus ihrer Kindheit resultieren. Ich will ihr das glauben. Natürlich ist es schwierig, einen autobiografisch gefärbten Roman zu kritisieren, stellt man doch dadurch den Autor und seine Vergangenheit auf den Prüfstand. Ich schätze aber, dass es nicht viel negative Kritik zu „Lügen über meine Mutter“ geben wird. Denn immerhin hat dieser Roman es in diesem Jahr bereits auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Mich konnte dieses Buch aber leider nicht für sich einnehmen.


 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.381
21.179
49
Brandenburg
Absolut. Auf den Punkt. Ich bin begeistert.
"Wenn es ihr darum ging, Literatur als Therapie zu nutzen, mag ihr das gelungen sein", - es ist aber doch sehr grenzwertig diese "Therapie" öffentlich zu machen. Dasselbe Problem hatte ich beim "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke". Die Leute machen sich dann so ihre Gedanken, die nicht unbedingt schmeichelhaft für den Roman sein müssen.
 
  • Like
Reaktionen: Renie