Rezension (3/5*) zu Lichte Tage: Roman von Sarah Winman

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Lieb doch, wen du willst!

Oxford, Anfang der 1960er-Jahre: Als sich die beiden zwölfjährigen Jungen Ellis und Michael erstmals begegnen, bemerken sie gleich, dass dies der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft sein könnte. Den zeichnenden Ellis und den lesenden Michael eint nicht nur die Liebe zur Kunst. Vielmehr herrscht zwischen ihnen selbst eine seltsame Anziehungskraft. Und so überrascht es nicht, dass es zwei Jahre später zum ersten Kuss der beiden kommt. Mehr als 30 Jahre später sitzt Ellis in einer Art Midlife-Crisis vereinsamt in seinem Haus und blickt zurück auf diese Freundschaft, die zarte Liebe - und auf das Leben mit seiner fünf Jahre zuvor tödlich verunglückten Ehefrau Annie. Auf die lichten Tage also, die in der vorherrschenden Dunkelheit allerdings kaum Hoffnung geben...

"Lichte Tage" ist der neue Roman der Schriftstellerin und Schauspielerin Sarah Winman, der in der deutschen Übersetzung von Elina Baumbach jüngst bei Klett-Cotta erschienen ist. Und er beginnt mit einem Ärgernis, denn eine Namensverwechslung im ersten Satz des Romans habe ich zuvor wohl auch noch nicht erlebt. Da diese Verwechslung erst nach etwa 50 Seiten deutlich wird, herrschte bei mir doch einige Zeit Verwirrung. Ansonsten mäandert die Handlung nach einem kurzen Prolog größtenteils zwischen den 1960er- und den 1990er-Jahren hin und her. Man kann ihr gut folgen, da sie sich ebenso wenig wie die Sprache als besonders komplex erweist. Höhepunkte sind sicherlich die ersten Begegnungen zwischen den Jungen und der Beginn ihrer Freundschaft und Liebe. Sarah Winman nimmt im gesamten Roman jede Art von Liebe, jede Beziehung als gegeben hin, ohne sie infrage zu stellen oder an ihr zu zweifeln. Ob homo-, bi- oder heterosexuell: In "Lichte Tage" herrscht diesbezüglich eine bemerkenswerte Selbstverständlichkeit vor. Frei nach dem Motto: "Lieb doch, wen du willst!"

Bedauerlich ist hingegen, dass sie sich teilweise für die falschen Momente Zeit nimmt und andere dahingehend vernachlässigt. So begleiten wir beispielsweise Ellis äußerst kleinteilig in die Dusche, lassen ihn den Wasserhahn einschalten, warten, aus der Dusche und wieder nach unten gehen. Hier hätte dem Roman eine Straffung, eine Verdichtung gut getan. Über zentrale Momente in der Jugend rauscht "Lichte Tage" hingegen hinweg. Genauso unbefriedigend scheint die Figur Annie zu sein. Während die Anfangsszenen zwischen Ellis und ihr noch recht ausführlich und bisweilen ein wenig kitschig erzählt werden, ist sie irgendwann nur noch eine Art "liebenswerter Keil" in der Beziehung zwischen Ellis und Michael. Annie wird von beiden Männern auf eine Art geliebt und liebt zurück. Aber was das Besondere an ihr ist, wird leider nicht deutlich. Zudem entpuppt sich "Lichte Tage" in den ersten zwei Dritteln des Romans doch als arg dialoglastig, wobei diese manchmal ein wenig hölzern wirken.

Umso erstaunlicher ist das, wenn man das letzte Drittel des Romans liest. In Michaels Tagebuch verfolgt man seine Rückkehr nach Südfrankreich, wo er als junger Mann mit Ellis einen unvergesslichen Urlaub erlebte. Plötzlich ist die Sprache poetisch, der ganze Text wird von einer bemerkenswerten Melancholie erfüllt. Hier zeigt sich, welch großes Potenzial dieses Buch gehabt hätte, wie schön Sarah Winman schreiben kann. Doch im Vergleich zur ersten Hälfte des Romans wirkt dies eher etwas unpassend und unrund. Fast so, als hätte plötzlich eine zweite Autorin Lust am Fabulieren empfunden.

Fazit: "Lichte Tage" ist eine nur in Ansätzen gelungene Mischung aus Coming-of-Age- und Liebesroman, deren großes Potenzial zwar spürbar ist, aber nicht konsequent genutzt wird. In Erinnerung bleibt die besondere Beziehung zwischen Ellis und Michael und Sarah Winmans empathischer und selbstverständlicher Umgang damit sowie der melancholische Rückblick Michaels auf die eigene Jugend.