Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1958 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und all dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat.Kaufen
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Welche „Lektionen“ will mir Ian McEwan in seinem neuen, überaus umfangreichen Roman erteilen? Diese Frage bewegt mich während der über 700 Seiten langen Lektüre, in deren Zentrum der sehr normale Roland Baines und sein Leben stehen. Roland wächst zunächst bei seinen Eltern u.a. in Libyen auf, als er älter wird, besucht er ein Internat, wird von seiner Klavierlehrerin dort missbraucht – ein Trauma, das lange Schatten über sein Dasein und sein Liebesleben wirft – findet und verliert die Liebe, wird Vater und verlassen und am Ende (soviel darf verraten werden) ist alles doch irgendwie gut oder wie Oscar Wilde einst verlauten ließ: „Everything is going to be fine in the end. If it’s not fine it’s not the end.“
Getreu diesem Motto lässt McEwan seinen Protagonisten vor dem Hintergrund der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts die Wechselfälle eines Lebens erfahren, aber da Roland keinen Plan, keine Ziele und auch keine wirklichen Wünsche hat, ist er bei allem, was da so passiert - sei es der Fall der Berliner Mauer, Tschernobyl oder die Pandemie – stets nur ein Zaungast, ein Beobachter. Wie wir alle ist auch er dabei, aber nie mittendrin. Das birgt ein hohes Identifikationspotenzial, das aber durch die überhöhte und sehr stark betonte Passivität Rolands nie vollends eingelöst werden kann. Für mich enthielt die Lektüre einige Hamlet-Momente, doch bei Roland Baines führt das Aufschiebeverhalten gerade nicht zur Katastrophe.
Als Figur ist Roland ein Mann ohne Ecken und Kanten, ohne rechten Willen und Anspruch, er fordert nichts, auch nicht sich selbst. Die anderen Figuren, die seine Welt bevölkern, werden vorwiegend durch den Filter seiner Wahrnehmung erläutert, auch sie passieren ihm ohne, dass es zu großen Konflikten, Dramen und Aussprachen kommt. Stets bleibt eine deutliche Distanz zu ihnen – für den Leser, aber auch für Roland. Im Hintergrund wabert der historische Kontext, dessen vermeintlicher Einfluss auf Roland (und umgekehrt) fast nicht existent ist.
Überhaupt die historischen Rahmenbedingungen: wenn der Roman sich immer wieder dem Exkurs verschreibt und in ausufernder Ausführlichkeit z.B. auf das Kennenlernen seiner Schwiegereltern eingeht und sich dabei bemüßigt fühlt, in weitschweifigem Detailreichtum die Geschichte der „Weißen Rose“ darzulegen, verliert der Roman seinen Fokus, seine Konzentration und beginnt zu plätschern. Da hatte ich mir doch mehr Schärfe, mehr Zielgerichtetheit und deutlich weniger Länge gewünscht. So kämpfen der Leser und der Roman immer wieder auch gegen Langatmigkeit und Längen, gegen Passagen, deren Funktionspotenzial sich auch bei Betrachtung des gesamten Textes nicht erschließen lässt. Manchmal ist weniger doch mehr.
Sprachlich und inhaltlich habe ich Bissigkeit, den Wow-Effekt, Doppeldeutigkeiten und ein umfangreiches Interpretationspotenzial vermisst, alles wirkt recht gütig und altersmilde. So sind McEwans „Lektionen“ ein lesbarer, aber viel zu lang geratener Abriss eines unspektakulären Lebens, ein gehobener Unterhaltungsroman mit dem ein oder anderen einprägsamen Moment, der aber oft zu konstruiert erscheint.
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