Rezension (3/5*) zu Kremulator von Sasha Filipenko

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Kremulator von Sasha Filipenko
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Im Chaos der Ereignisse

In „Kremulator" bringt Sasha Filipenko dem Leser die russische Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts näher. Dabei bedient er sich der Lebensgeschichte des Tausendsassas Pjotr Nesterenko, amüsanter Ich-Erzähler dieses Romans und zu Beginn der Handlung Direktor des Moskauer Krematoriums. Nesterenko ist soeben verhaftet worden, wird des Verrats beschuldigt und tritt erstmalig seinem Verhörbeamten gegenüber. In den kommenden Monaten wird es eine Vielzahl an Verhören geben, in denen Nesterenkos Schuld nachgewiesen werden soll.
Nesterenko ist dabei aufgefordert, seine Geschichte zu erzählen, angefangen mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zu seiner Verhaftung im Jahr 1941.
Während dieser Zeit hat Nesterenko geb. 1886, als Offizier im Krieg gekämpft, hat die Oktoberrevolution miterlebt, wurde verwundet. Als Offizier adliger Abstammung stand er auf der falschen Seite, sobald in Russland die Bolschewisten an die Macht kamen. Daher suchte er sein Heil in der Flucht, die ihn von Serbien, über Konstantinopel bis nach Frankreich führte. 1926 zog es ihn wieder nach Russland, das mittlerweile zur kommunistischen Sowjetunion geworden war, wo er die Stelle des Direktors des Moskauer Krematoriums antrat. Das totalitäre Regime brachte viele Leichen mit sich, die es auf effektive Weise zu entsorgen galt. Dies war nun die Aufgabe von Nesterenko.
So viel zum Inhalt, der sich hauptsächlich auf den Werdegang Nesterenkos sowie die geschichtlichen Zusammenhänge konzentriert.
Der Einstieg in den Roman ist gewöhnungsbedürftig, denn hier treffen Grauen und Humor aufeinander. In Nesterenko haben wir einen Protagonisten, der über seine Arbeit in einer humoristischen Abgebrühtheit spricht, dass es wehtut. Zudem scheint ihn der Größenwahn befallen zu haben, denn er betrachtet die Verhöre mit seinem Ermittlungsbeamten als Kräftemessen, bei dem er, der Delinquent, die Oberhand hat. Doch Nesterenko kann diesen Kampf nicht gewinnen, was ihm auch mit jedem weiteren Verhör bewusst zu werden scheint. Denn seine anfängliche Überheblichkeit gegenüber dem Beamten schwindet, seine ursprüngliche gute Laune, die sich in einer unangemessenen Witzigkeit äußerste, kommt abhanden.
Der Erzählweise ist dabei vielfältig. Zunächst konzentriert sich die Handlung auf die Verhöre, welche aber von Nesterenkos eigenen Gedanken und Erinnerungen unterbrochen werden, genauso wie durch kurze Auszüge aus seinen Tagebüchern, die er über einen Zeitraum von 30 bis 40 Jahren geschrieben hat. Darüber hinaus finden sich „offizielle" Dokumente, wie Vernehmungs-und Abschlussberichte, Autobiografien, Beschlüsse von offizieller Seite etc. sowie Fotos von Nesterenko. Ob diese offiziellen und historischen Dokumente echt sind, sei dahingestellt. Zumindest gibt es den Hinweis, dass der Autor Sasha Filipenko Zugriff auf historische Dokumente hatte, die ihm die Organisation Memorial zur Verfügung gestellt hat. Aus dem Roman geht auch nicht hervor, inwieweit die Protagonisten der Realität entstammen, was aber für den Roman keine Rolle spielt, da die einzelnen erzählten Schicksale austauschbar sind mit denen Tausender anderer Menschen der damaligen Zeit in der Sowjetunion.
Anhand des Lebensweges von Nesterenko versucht Filipenko, dem Leser die Geschichte Russlands näher zu bringen, was ihm allerdings nur bedingt gelingt. Nesterenkos Erinnerungen sind chaotisch, er springt zwischen den Ereignissen, die sein Leben bestimmen kreuz und quer, so dass man als Leser den Fokus verliert. Es ist kaum auseinander zu halten, in welcher Zeit, an welchem Ort wir uns befinden, ganz zu schweigen davon, dass man kaum erkennt, wer gerade gegen wen Krieg führt und auf wessen Seite sich Nesterenko gerade befindet.
Hinzu kommen unzählige historische Zeitgenossen, die dem Leser in Nesterenkos Erinnerungen en passant begegnen und genauso schnell verschwinden, wie sie aufgetaucht sind. Die Namen dieser Figuren waren mir unbekannt, eine Recherche wäre aufgrund der Vielzahl müßig gewesen.
Anfangs konnte mich dieser Roman noch für sich einnehmen. Ein Protagonist wie Nesterenko ist außergewöhnlich: sarkastischer Humor, Wahnwitz und Nervenstärke, der trotz der lebensbedrohlichen Situation, in der er sich befindet, glaubt, dem Tod von der Schippe springen zu können. Filipenko lässt seinen Protagonisten Gedanken über Themen äußern, die einen Bezug zu aktuellen Ereignissen in unserer Gegenwart haben: Krieg, Flüchtlingswellen und natürlich immer wieder Kritik am russischen Regime. Die Gedankenspiele, die dabei beim Lesen hervorgerufen werden, halten das Interesse an diesem Roman aufrecht. Doch leider hat mich Filipenko im weiteren Verlauf des Romans abgehängt, da sich die Handlung leider in den Irrungen und Wirrungen historischen Ereignisse verliert sowie der Odyssee von Nesterenko.
Nesterenkos Verhalten wird immer fragwürdiger und die Motive für seine Handlungsweisen werden immer diffuser. Hier hätte ich mir von Filipenko eindeutigere Hinweise erhofft, was die Entwicklung seines Protagonisten betrifft. Die Frage, ob wir es bei Nesterenko mit einem traumatisierten Menschen zu tun haben, dessen Unberechenbarkeit auf seine seelischen Beeinträchtigungen zurückzuführen sind, die er durch die Kriege erlitten hat, oder, ob Nesterenko ganz einfach ein größenwahnsinniger Egozentriker ist, bleibt ungeklärt.
Fazit: Der Roman hat einen starken und vielversprechenden Anfang. Das Niveau flaut jedoch mit fortlaufender Handlung ab, denn sowohl Protagonist als auch Autor verlieren sich in dem Chaos der Ereignisse. Dadurch wird aus dem anfänglichen aberwitzigen Roman am Ende ein chaotischer Roman, der mich nicht mehr erreicht hat.
Aber Filipenko wäre nicht Filipenko, wenn in all diesem Chaos nicht die Wortgewandtheit des Autors durchgeblitzt hätte, die er auch schon in anderen Roman bewiesen hat. Somit gab es aus sprachlicher Sicht auch viele gute Momente, die mich bis zum Schluss bei Laune gehalten haben.