Rezension Rezension (3/5*) zu Gott wohnt im Wedding: Roman von Regina Scheer.

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Gott wohnt im Wedding: Roman von Regina Scheer
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Vertriebene, Gestrandete und ein sprechendes Haus


Dreh- und Angelpunkt des Romans ist ein Mehrfamilienhaus in der Utrechter Straße im Berliner Stadtteil Wedding. Von jeher ist dies ein armer Stadtteil, wohin sich die Gestrauchelten, die Perspektivlosen hinziehen. Das Haus, das auch regelmäßig selbst zu Wort kommt, um über sich und seine Bewohner zu berichten, ist deutlich über hundert Jahre alt und hat entsprechend schon vieles kommen und gehen sehen:
„Die Hoffnungslosigkeit ist wie ein Geruch, den meine Bewohner auch tagsüber nicht loswerden, der in alle Poren meines alten Mauerwerks dringt, wo er sich schon seit über hundert Jahren hält, trotz der immer wieder frischen Anstriche und so vieler Schichten bunter Tapeten.“ (S. 187)

Mittlerweile ist das Haus Spielball von Spekulanten geworden und soll in Kürze entmietet und abgerissen werden.

Leo Lehmann ist als Jude in Berlin aufgewachsen. Er lebt seit Jahrzehnten in einem Kibbuz in Israel, nach Berlin ist er nur gekommen, um Erbschaftsangelegenheiten anwaltlich klären zu lassen. Dabei wird er begleitet von seiner Enkeltochter Nira. Leo ist selbst überrascht, wie die Erinnerungen über ihn herfallen im Angesicht der ehemals vertrauten Orte.
„Er ist fremd in dieser Kulisse, und nicht nur, weil die Straße so anders aussieht. Er ist nach Berlin gekommen, weil er etwas zu erledigen hat, nicht um seiner Vergangenheit nachzuspüren. Mit seiner Vergangenheit ist er fertig. Mit Berlin ist er fertig. Mit diesen Häusern und den Erinnerungen. 1948 hat er Berlin verlassen“ (S. 12)

Während der NS-Zeit hat er Furchtbares durchstehen müssen. Er verlor seine Familie, konnte selbst den Lagern entgehen, lebte aber seit 1942 als sogenanntes U-Boot im Untergrund, musste sich dauerhaft verstecken und war auf andere Menschen angewiesen. Dieses Schicksal teilte er mit seinem besten Freund Manfred.

Gertrud Romberg lebt seit ihrer Geburt über neunzigjährig im Haus in der Utrechter Straße. Sie hatte mit dem Leben schon weitgehend abgeschlossen. Neuerdings hat sie aber wieder eine Aufgabe: Der Flüchtlingsstrom hat Roma-Familien unter anderem aus Rumänien und Bulgarien in den Wedding gespült. Sie leben in diesem alten Domizil unter einfachsten Bedingungen und freunden sich mit der alten Dame an. Betreut werden die Roma von der Sozialarbeiterin Laila, die ebenfalls einem großen Sinti-Clan entstammt, jedoch das Privileg hatte, lernen und studieren zu dürfen. Auch Lailas Familie, über die wir auch viel erfahren, hat einmal in besagtem Haus gelebt.

Ziemlich schnell wird die Verbindung zwischen Leo Lehmann und Gertrud Romberg deutlich. Leos ebenfalls jüdischer Freund Manfred war nämlich Gertruds große Liebe. Gertrud stellte den beiden regelmäßig einen Verschlag in ihrer Wohnung zur Verfügung und versorgte sie. Tragisch war letzten Endes, dass Manfred 1943 in dieser Wohnung festgenommen wurde. Eine Tatsache, die Leo Gertrud nicht verzeihen kann, geht er doch fest davon aus, dass sie die Freunde damals an die Nazis verraten hat. Manfred haben sie nie wieder gesehen.

Der Roman handelt von Verfolgten und Gestrandeten. Er beleuchtet das Schicksal vieler Menschen vor und während des Krieges anhand der Protagonisten Leo und Gertrud. Spannend sind deren Erinnerungen zu lesen, zumal auch historische Personen darin vorkommen. So wurde vor dem Haus in der Utrechtstraße der Hitlerjunge Walter Wagnitz erstochen – ein Mordfall, der Anlass zu großen Spekulationen gab. Die Rückblicke der beiden Protagonisten ergänzen sich. Der Leser merkt bald, dass ein bedeutendes Missverständnis zwischen ihnen existiert, so dass man gespannt darauf wartet, dass sich die beiden alten Menschen aussprechen.

Ebenso viel Raum wird den Sinti- und Roma-Familien gewährt, die teilweise von Existenzängsten getrieben im Haus untergekommen sind oder als Schausteller in Wohnwagen leben. Hier gibt es umfangreiche Rückblicke, die über die Verfolgung vor, während und nach der NS-Zeit bis in die Gegenwart hinein berichten. Die Sinti- und Roma-Familien sind seit Jahrzehnten Verfolgte, niemand will sie aufnehmen, nirgends sind sie willkommen.
Auch in Berlin haben sie zu kämpfen. Allerdings tauchen bei den ausführlichen Schilderungen dermaßen viele Figuren auf, dass ich als Leserin zunehmend den Überblick verlor und die Schicksale nicht mehr sauber trennen konnte. Weniger wäre aus meiner Sicht an dieser Stelle mehr gewesen.

Die Autorin muss eine unglaublich akribische Recherche betrieben haben, deren Ergebnisse sie dem Leser nicht vorenthalten möchte. Dadurch führt sie eine Fülle an geschichtlichen Fakten, Schauplätzen, Namen usw. ein, dass stellenweise der eigentliche Handlungsfaden in den Hintergrund gedrängt wird. Manchmal hatte ich das Gefühl, in einem Sachbuch gelandet zu sein.

Auch ohne je dort gewesen zu sein, konnte ich mir den Wedding als Schauplatz sehr gut vorstellen. Die Lebensgeschichten von Leo und Gertrud, die geschickt mit der Gegenwart verknüpft werden, haben mich sehr berührt. Bis zum Ende habe ich auf ein erneutes Zusammentreffen der beiden hingefiebert. Wunderbare Sätze sind in diesem Roman zu finden, es schwingt immer eine gewisse Melancholie mit, die mitunter auch sehr poetisch ausgedrückt wird.

Weiterhin hat mir gut gefallen, dass sämtliche Personengruppen sehr differenziert dargestellt werden. So gibt es zum Beispiel nicht nur die guten Roma, sondern tatsächlich auch welche, die in der Not stehlen oder sogar ein Kind „verschenken“ – etwas, das uns nahezu unglaublich erscheint. Das Leben im Wedding wirkt durch die verschiedenen Charaktere sehr realitätsnah.

Insgesamt ist "Gott wohnt im Wedding" ein recht komplexer Roman, der mit seiner Detailtreue fast ein Zeitdokument sein könnte.



 
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KrimiElse

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Ich bin beeindruckt...du hast aus der Fülle an Fakten und Handlungen eine sehr aussagekräftige Rezension geschrieben, die in meinen Augen dem Buch sehr gerecht wird. Mal sehen, ob mir das auch gut gelingt...
 
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Literaturhexle

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Ich bin beeindruckt...du hast aus der Fülle an Fakten und Handlungen eine sehr aussagekräftige Rezension geschrieben, die in meinen Augen dem Buch sehr gerecht wird. Mal sehen, ob mir das auch gut gelingt...
Ich danke dir! Sie hat mich auch fast drei Stunden gekostet. Immer wieder habe ich sie gelesen und Vokabeln ausgetauscht. Am Ende war ich wirklich (wieder mal) unsicher. Deshalb freue ich mich über dein Lob, weiß ich doch, dass es ehrlich ist ;)
Mit dem Abstand von ein paar Stunden bin ich auch zufrieden: die Rezi fasst zusammen, wie es mir beim Lesen ging.