Rezension (3/5*) zu Gewittertiere: Roman von Svealena Kutschke

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.602
21.862
49
Brandenburg
Den Zeitgeist bedient, die Rassismuskeule gezückt, moralinsauer.

Kurzmeinung: Moralinsauertöpfisch.


In dem Roman „Gewittertiere“ geht es eigentlich um zwei Geschwister, Colin und Hannes, die bei ihren willigen, aber unfähigen Eltern in Berlin/Stadtrand eine nicht leichte Kindheit mehr überlebt als erlebt haben. Ihr Erwachsenenleben ist folglich, aber auch folgerichtig?, geprägt von Frust und Resignation.

Hannes wurde zuckerabhängig, fett, und später sogar Alkoholiker. Immerhin ist er noch imstande, seinem Beruf als Gerichtsvollzieher nachzukommen, wobei er naturgemäß auf viele „abgerissene“ Typen triff, auf Menschen, die irgendwie durch die Maschen des sozialen Sicherheitsnetzes gerutscht sind. Es wäre interessanter gewesen, wenn die Autorin nicht nur „Gerichtsvollzieher-Fälle“ erzählt hätte, sondern Hannes mehr hätte interagieren lassen. So ist es ein bisschen wie in einer Fernsehserie „Der Gerichtsvollzieher klingelt“. Dieser Teil ist viel zu ausufernd.

Colin ist lesbisch, was sie aber lange Zeit nicht richtig begreift. Zudem leidet sie, obwohl hochintelligent, unter einer Art verzögerter Reaktion. Deshalb arbeitet sie trotz guten Schulabschlusses in einem heruntergekommenen Berliner Späti, also einem Laden, der immer aufhat. Dort treffen sich ebenfalls die Menschen, die vom sozialen Abstieg betroffen sind. Hier ist der Autorin eine bessere Verarbeitung gelungen und es kommt die Marginalisierung der Menschen ausdrucksstark zum Vorschein. Besonders eine Szene sticht hervor, als Colin den Notdienst ruft.

Der Kommentar:
Die Autorin bedient in ihrem Buch zu sehr den Zeitgeist, der unbedingt den Aufschrei „Rassismus überall“ hören will. Das ist sehr schade, denn das Meiste dazu wirkt willkürlich, aufgesetzt, überkonstruiert und es geht manche, sonst fein herausgearbeitete Facette der Figuren unter, ja, ich möchte sagen, sie zerschellen an dem Anspruch des Romans Rassismus anzuprangern.

Denn der sexuellen Findung Colins und ihrer Verlangsamung bin ich gerne gefolgt. Ich habe verstanden, warum sie trotz ihrer Begabung „nur“ im Späti gelandet ist, wo niemand etwas von ihr wollte, sie sich mit niemandem vergleichen musste und sie mit dem Hintergrund verschmolz, unsichtbar wurde. Und damit unauffällig.

Warum ihre Lebensgefährtin unbedingt eine Türkin sein musste, merkt man an folgender Szene: Als Colin nach einer Anfeindung in der U-Bahn, natürlich wird man in Berlin jedesmal, wenn man die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt, angepöbelt (stimmt gar nicht), dem Bruder von Eda davon erzählt und begeistert davon ist, wie verständnisvoll er reagiert, wird sie von Eda übelst dafür beschimpft. Wieso sie nur annehme, dass der Bruder das nicht verstehe, etc. etc. und wie rassistisch das sei.

So eine Darstellung entgegen der Realität nehme ich übel. Weil sie die islamisch geprägte Community ausblendet, die Wirklichkeit einer Gruppe, in der mehrheitlich Homosexualität keineswegs toleriert wird oder die gleichgeschlechtlichen Lebensgefährten eben nicht mit offenen Armen in deren Familien aufgenommen werden. Das ist im Roman in der Tat eine rühmliche Ausnahme. Aber das Gegenteil ist Realität und deshalb nicht rassistisch gedacht. Leider. Ganz abgesehen von der Intoleranz gegenüber weiblicher Selbstbestimmung. Ehrenmorde und Zwangsverheiratungen zu erwähnen, wäre also auch rassistisches Gedankengut. Na, danke.

Svealana Kutschke hat eine Reihe von fast genialen Einfällen. Es ist urkomisch und gleichzeitig natürlich tragisch, wie der Vater sein Leben damit verschwendet, im Garten einen Bunker zu bauen. Aber wieder holt die Autorin die Rassimuskeule heraus und demoliert ihren Einfall gleich wieder. Ob er denn glaube, der bunkerbauende Vater, lässt sie die Tochter fragen, dass er Schutz brauche vor den Flüchtlingen oder ob es nicht eher die Flüchtlinge wären, die Schutz brauchten, wenn deren Unterkünfte angezündet würden. Und natürlich sitzt die ganze Familie angespannt und völlig fertig vor dem Fernseher bei jeder rassistischen Ausschreitung und ist entsetzt. Ja, selbstredend sind diese Ausschreitungen entsetzlich und trotzdem wirken sie lächerlich aufgesetzt, diese Szenen im Buch. Mehr und mehr entsteht der Eindruck Colin und Hannes seien nur Alibifiguren um dergleichen anzuprangern. Peinlich.

Sprachfluß ist gegeben, es liest sich angenehm so vor sich hin, manche Bilder geraten jedoch außer Kontrolle.

Fazit: Die Figurenzeichnungen im Buch sind mal mehr mal weniger realistisch. Colin ist im Großen und Ganzen gut gelungen. Das Interagieren der Protagonisten funktioniert nicht so gut, es entsteht zusätzlich ein Glaubwürdigkeitsproblem, denn die Rassismuskeule erschlägt jeden guten Ansatz des Romangeschehens. Moralinsauertöpfisch einmal anders ist das.

Es bleiben mit viel Good Will noch 3 Sterne am Himmel stehen.

Kategorie: Belletristik
Verlag: Claasen, 2021

 
Zuletzt bearbeitet:

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Eine Glanzleistung aus deiner Feder! Sauber hat du das Für und Wider des Romans seziert. Man kann ihn sich sehr gut vorstellen und einschätzen, ob man das lesen möchte oder nicht. Richtig gut gelungen:)