Rezension (3/5*) zu Ein anderes Land: Roman von James Baldwin

Renie

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Buchinformationen und Rezensionen zu Ein anderes Land: Roman von James Baldwin
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Die Stadt der Verzweifelten

James Baldwin war ein Autor der Extreme: mit einem extremen Sprachstil und extremen Charakteren war er in der Lage, ein extremes Kopfkino zu erzeugen. Baldwin lesen bedeutet, in eine Gedankenwelt und Szenerie abzutauchen, die einen packt und bis zum Ende eines Romans mitreißt. Zwischen den Zeilen spürt man eine Besessenheit des Autors, die auf mich eine große Faszination ausübt.

In den letzten Jahren habe ich mich in schöner Regelmäßigkeit von seinen bisher erschienen Romanen vereinnahmen lassen. Daher habe ich nun in gespannter Erwartung Baldwins letzten seiner Romane gelesen, die mir noch in meiner Sammlung fehlten: "Ein anderes Land" aus dem Jahr 1962, nun vom dtv Verlag in einer Neuübersetzung wieder veröffentlicht.

In diesem Roman begegnet uns eine Gruppe von Menschen im New York der 50er Jahre. Allen voran Rufus, ein Schlagzeuger und der einzige Schwarze. Die Menschen dieser Gruppe sehen sich selbst als Bohémians, ihren Lebensunterhalt verdienen sich sich mehr oder weniger erfolgreich als Schriftsteller, Schauspieler oder Musiker. Diese Menschen begegnen sich hauptsächlich im New Yorker Nachtleben. Man frönt dem bohemischen Dasein unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen und Sex. Zum Entsetzen aller wird sich Rufus das Leben nehmen, und der Roman beschäftigt sich mit der Frage nach Rufus' Motiv für seine Lebensmüdigkeit.

Eines haben alle Charkatere aus dem Personenkreis um Rufus herum gemeinsam: sie hadern mit sich und ihrem Leben. Sind auf der Suche nach ihrer Identität, die augenscheinlich von ihrer Hautfarbe und sexueller Orientierung bestimmt ist und scheitern bei dieser Suche.

Der Roman beginnt mit einem Teil, der Rufus in der Zeit vor seinem Tod zeigt. Er lebt mit Leona zusammen, einer Weißen, die er auf einer Party kennengelernt hat. Die Beziehung ist zerstörerisch und extrem. Denn sowohl Liebe als auch Aggressivität und Gewalt bestimmen den Alltag. Scheinbar können die beiden nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander. Dieser Abschnitt endet mit dem Selbstmord von Rufus. Danach richtet sich die Aufmerksamkeit auf Freunde und Familie von Rufus und deren Leben nach seinem Tod. Alle haben unterschiedliche Sichtweisen auf Rufus Charakter. Selbst der Leser hat Rufus anders wahrgenommen, als seine Freunde den jungen Musiker in Erinnerung haben. Die Suche nach dem Motiv für Rufus' Selbstmord wird von der Darstellung der Einzelschicksale begleitet. Waren Freunde und Familie im ersten Abschnitt noch Nebenfiguren, werden sie im weiteren Verlauf des Romans zu Hauptcharakteren, die an ihrem Leben verzweifeln.

Es wäre ein leichtes, die Verzweiflung dieser Charaktere durch den Rassismus-Gedanken dieses Buches zu begründen. Denn wie in fast allen Romanen von James Baldwin ist auch hier die Diskriminierung von Schwarzen ein zentrales Thema. Doch die Gruppe der Protagonisten besteht aus Menschen beider Hautfarben - schwarz und weiß. Daher war es für mich schwierig, die Ursachen für die "Verzweiflung" herauszulesen.

Mein Fazit:

Diesmal bin ich zwiegespalten. Konnte mich James Baldwin bisher immer mit seinen Romanen überzeugen, bin ich diesmal nicht ganz so euphorisch in meinem Urteil.

Das Positive vorweg: Sprachlich fand hier wieder großes Baldwin-Kino statt. Wie immer hat Baldwin mich mit seiner Intensität mitgerissen. Herausragend war auch der Schauplatz: Baldwin lässt uns durch "sein" New York der 50er Jahre wandeln. Diese Bilder vermitteln eine großartige Stimmung, die Kopfkino in den schillerndsten Farben präsentiert.
Das Negative: die Charaktere dieses Romans sind mir fremd geblieben. Ich habe begriffen, dass jeder an seinem momentanen Leben verzweifelt. Doch leider wurde mir nicht klar, worin diese Verzweiflung begründet ist. Leider gab es für mich auch keine Auflösung, was das Motiv für Rufus' Selbstmord angeht.

Der Roman ist immer noch durch Baldwins Sprachgewalt lesenswert. Doch inhaltlich konnte er mich diesmal nur im Ansatz erreichen.

© Renie

von: Friedrich Dönhoff
von: Anne McAllister
von: Titus Müller
 

Wandablue

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Diese Zeit und New York beschäftigt auch die schwarzen Schriftsteller bis zum heutigen Tage. Ergänzend dazu vllt Harlem Shuttle von Colson Whitehead? Das ist die "Nacht der Ganoven" in Harlem. Die gehört dazu. Nicht nur das Schillerende und Glitzernde.

Wie hast du die Neuübersetzung erlebt? Positiv vllt?
 
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Diese Zeit und New York beschäftigt auch die schwarzen Schriftsteller bis zum heutigen Tage. Ergänzend dazu vllt Harlem Shuttle von Colson Whitehead? Das ist die "Nacht der Ganoven" in Harlem. Die gehört dazu. Nicht nur das Schillerende und Glitzernde.

Wie hast du die Neuübersetzung erlebt? Positiv vllt?
Da ich keine Vergleichsmöglichkeit habe, kann ich deine Frage leider nicht beantworten. Es wäre aber sicherlich interessant, eine ältere Übersetzung daneben zu legen. Ich erinnere mich vage daran, dass in der Leserunde zu diesem Roman irgendeiner über Formulierungen gestolpert ist, die vom Original abweichen bzw. den tieferen Sinn der originalen Formulierung nicht ganz trafen, was natürlich kein Pluspunkt für die Neuübersetzung ist.
 

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Ich mein, man merkt es auch ohne Vergleichsmöglichkeiten, wenn eine Ü wirklich schlecht ist, dann holperts, man versteht manche Sätze nicht und fragt sich woran es liegt.

Ob sinngemäss übersetzt wird, kann man natürlich nicht nachprüfen, aber beim Schiwago habe ich innegehalten und es hat mich mächtig was gestört, bevor ich überhaupt auf die Idee kam, es könnte sich um eine Neuübersetzung handeln. und bei Middlemarch war es nicht viel anders.
 
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Diese Neuübersetzungen sind allerdings generell problematisch, scheint mir. Bei der Kreutzersonate war es ok. Aber hier kannte ich die frühere Übersetzung nicht.
 

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