Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht zum Balkon und stürzt sich ohne ein Wort in den Tod. Die Familie ist im Schockzustand. Plötzlich fehlt ihnen alles, was sie bisher zusammengehalten hat: Liebe, Fürsorge, Sicherheit.Kaufen
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Ja, wütend bin ich in der Tat – ich bin mir nur ziemlich sicher, dass ich nicht unbedingt die Art von Wut empfinde, auf die der Roman abgezielt hat. Mareike Fallwickl widmet sich einem wichtigen Thema: der persistierenden, unumkehrbar erscheinenden Ungleichheit von Frauen und Männern, verursacht durch ein traditionelles, überkommenes Rollenverständnis, das zwar zunehmend altmodisch erscheint, aber dennoch vielfach weitergelebt wird, auch weil Frauen es oftmals nicht wagen, ihren Aufgabenbereich infrage zu stellen. Und genau da fangen meine Wut und meine Kritik schon an. Das Rollenverständnis, die Care-Aufgaben, das Bemuttern sind etwas, das vor allem von Frauengeneration zu Frauengeneration weitergegeben wird. Männer beurteilen nur selten die Fähigkeiten von Frauen, eine gute Mutter und Hausfrau zu sein – weil sie diese Tätigkeiten nur selten überhaupt bewusst wahrnehmen. Frauen untereinander sehr wohl – und keine Kindergartenmutter der Welt würde sich wohl die Blöße geben wollen, dass ihre Sprößlinge ohne selbstgebackene Muffins am Geburtstag in der KITA erscheinen, allein schon um das Gewisper und Gemurmel zu vermeiden und als „unzureichend“ klassifiziert zu werden. Dies hätte Fallwickl meines Erachtens aufgreifen können und müssen: die abschätzige Art und Weise wie Frauen miteinander umgehen und dadurch das patriarchale System selbst stützen. Stattdessen sind hier die Männer an allem schuld, weil sie unterlassen, vernachlässigen und gewalttätig sind.
Sarah, selbst kinderlos, nach dem Tod ihrer Freundin springt unaufgefordert in die vakante Mutterrolle. Der mangelnden Anerkennung, der konstanten Überforderung und der unausgesprochenen Verantwortung schließlich doch etwas überdrüssig, schafft sie es dennoch nicht ein zielführendes Gespräch mit dem Vater der Kinder, der sein altes Leben unverändert weiterlebt, zustande zu bringen. Statt mit Johannes zu sprechen, kommuniziert sie mit der toten Helene – was nicht hilfreich ist. Und während Sarah in Hausarbeit erstickt, aber nicht darüber redet, arbeitet der Roman darauf hin, dass man den Vater als Nutznießer sehen soll, als jemanden, der einfach sehr bequem das durch Sarahs Hilfe entstandene System nach allen Regeln der Kunst ausnutzt und davon profitiert, einfach weil er ein Mann ist, der sich geschickt aus der Affäre zieht, weil er es (gesellschaftlich) eben kann. Ganz ehrlich: es gibt wohl niemanden, egal ob männlich oder weiblich, der nicht eine so komfortable Lösung sofort ergreifen würde, vor allem wenn das Gegenüber nicht einmal sagt, dass ihr oder ihm die Lage nicht passt. Es tut mir leid, aber dass Sarah so blauäugig mit ihrem anscheinend übergroßen Helfersyndrom in die Bresche springt und unfähig ist, sich daraus wieder zu lösen, ist ihr Problem und nicht das ihrer Umgebung. Dazu kommt, dass der Roman in diesem Handlungsstrang einfach viel zu einseitig verläuft. Die Männerfiguren in Sarahs Leben, neben dem Witwer ihrer Freundin ihr sehr junger Freund Leon, sind einfach so unterkomplex und stereotyp gezeichnet, dass mir die Haare zu Berge stehen. Und so gerät Sarahs Geschichte zu einer zu plakativ geratenen Abrechnung mit den bequemen Männern, die Frauen nach Strich und Faden ausnutzen, sich bedienen lassen und dabei noch wie der tolle Hecht fühlen.
Der Kontrast zu der sehr naiv erscheinenden Sarah ist die überaus gender-bewusste Lola, Tochter der verstorbenen Helene, die ihr Wissen um Diskriminierung und mangelnde Gleichberechtigung auf sehr überhebliche Art und Weise an Sarah weitergeben will. Lolas Verhalten gegenüber Sarah ist von beständiger Arroganz gekennzeichnet. Ihre im Grundsatz durchaus zutreffenden Wahrnehmungen und Optimierungsvorschläge haben mich sensibilisiert, gleichzeitig aber auch extrem genervt. Lola sitzt auf einem enorm hohen Ross, ihr Anspruch die Weisheit der Welt gepachtet haben, ist einfach nur unangenehm, was dazu führt, dass man den ganzen Feminismus nur noch mit hochgezogenen Augenbrauen folgt. Das ist sehr bedauerlich, denn gerade hier wäre es doch von Bedeutung gewesen ein Umdenken anzustoßen. Aber dadurch, dass ein zu sehr von sich überzeugter Teenager all die wichtigen Ziele referiert, verlieren die Argumente an auf subtile Art an Ernsthaftigkeit.
Dazu muss man konstatieren, dass auch in den Lola-Teilen Männer nur minimale Nebenrollen haben, hier handelt es sich allesamt um Aggressoren und Gewalttäter. Da Lola dies in ihrem feministischen Universum nicht länger dulden kann, holt sie zusammen mit ihrer Mädchengang zum Gegenangriff aus und verprügelt und schlägt Männer, die mutmaßlich Frauen attackiert haben. Gewalt wird also mit Gewalt vergolten.
Warum bin ich nun wütend? Ich bin wütend, weil der Roman ein wichtiges, aktuelles Thema behandelt und es trotz aller Mankos geschafft hat, mir die Augen für bestimmte Verhaltensweise, gesellschaftliche Normen und Werte zu öffnen, die man meist ungefragt und unbewusst akzeptiert, dabei agiert er aber leider so plakativ, offensichtlich und einseitig, dass man ihn nicht wirklich ernst nehmen kann. Er ist richtig gut geschrieben und hat viele Aspekte, die diskussionswürdig sind, aber seine eindimensionalen Männerfiguren verhindern eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik, der durch diese simple Schwarz-Weiß-Zeichnung die Komplexität entzogen wird. Dazu kommt, dass der Roman in der ewigen Wiederholung von Alltagsmomenten leider durchaus ein paar Längen aufweist und dann meines Erachtens nicht gut über die Ziellinie gebracht wird. Besonders der Lola-Strang beinhaltet eine Auflösung, die mehr als fragwürdig ist. Ich frage mich sehr ernsthaft, wer die Adressatengruppe dieses Romans sein soll. Die Kapitelüberschriften deuten hohe Komplexität und Abstraktionsgrade an, zu Beginn gab es an einer Stelle sogar ein feines erzähltechnische Spielchen, aber der Inhalt des Romans und seine Aussage sind so einfach gestrickt, dass man sich nicht groß bemühen muss, die Funktion des Textes zu erkennen. So bleibt der Roman eine Lektüre, die ausschließlich die Emotionen anspricht, auf welche Art auch immer.
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