Rezension (3/5*) zu Die Wütenden und die Schuldigen: Roman von John von Düffel

Literaturhexle

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2. April 2017
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Vertrackte Familiengeschichte in pandemischen Zeiten

Der Roman ist im Frühjahr 2020 angesiedelt zur Zeit des ersten großen Corona-Lockdowns in Deutschland, als die Angst vor dem Virus noch groß und die Kenntnisse darüber sehr gering waren. Mit einem Schlag änderte sich die Welt, wie wir sie kannten, liebgewonnene Selbstverständlichkeiten wie Besuche und Kontakte gerieten auf den Prüfstand, Planungen durcheinander.

Genau so geht es auch der Familie, die im Mittelpunkt dieses Romans steht. Richard ist schwer an Krebs erkrankt, sein Tod ist absehbar. Gemäß Planung will ihn seine (ehemalige) Schwiegertochter Maria mit Enkelin Selma und der befreundeten Sterbebegleiterin Kathi in seinem Heimatdorf in der Uckermark besuchen. Nun ist Maria Anästhesistin an der Berliner Charité und muss sich aufgrund eines dortigen Corona-Falls sofort in häusliche Quarantäne begeben – aus ist es mit ihren Reiseplänen. So fahren Kathi und Selma alleine aufs Land, um Richard beizustehen.

Indessen hat Maria einen Wasserschaden in ihrer Wohnung. Sie muss sich zudem um nötigste Einkäufe kümmern und lernt dabei ihren Obermieter kennen, der ihr neue Gedankenräume eröffnet. Marias Sohn Jakob indessen ist bei seiner Freundin rausgeflogen und hat fest mit Mutters leerer Wohnung gerechnet – die ja nun wider Erwarten bewohnt ist.

Die Verwicklungen der einzelnen Familienmitglieder nehmen im Verlauf des Romans zu. Jede Figur hat ihr Päckchen zu tragen. Die Handlung pendelt zwischen der Uckermark und Berlin hin und her, verbunden durch einige Telefonate und eine schlechte Internet-Verbindung. Das Geschehen ist niemals langweilig. Jeder hat individuelle Probleme, die sich teils aus der aktuellen Lage ergeben, teils aber auch aus längst vergangenen Verlusten und Verletzungen resultieren. Im Mittelpunkt steht der sterbende Richard, der als protestantischer Pfarrer seit langem mit Gott hadert, und die Sorge um ihn. Doch auch das Schicksal seines Sohnes und Marias Ex-Mannes Holger schwebt über allem. Er befindet sich nämlich nach einem Selbstmordversuch in einer psychiatrischen Anstalt. Nach und nach werden die Verstrickungen deutlich, die eine unbestimmte Schwere vermitteln.

Bei der Bewertung dieses Buches bin ich wirklich hin und her gerissen. Ich habe mich ziemlich hindurch gekämpft. Obwohl eigentlich immer etwas passiert, empfinde ich die Handlung teilweise als aufgesetzt, unrealistisch und konstruiert, so dass in meinen Augen die zweifellos vorhandene Tiefe des Geschehens von rasanten Nebenhandlungen überlagert wird. Viele Themen werden angeschnitten: Abschied, Glauben und Tod, Schuld und Vergebung, Angst vor Einsamkeit, moderne Lebensformen, Pubertät und vieles mehr. Mir waren es ein paar zu viele Baustellen. Manches wird eben nur angerissen und nicht auserzählt, so dass es am Ende an der Oberfläche bleibt. Dasselbe gilt für die Figuren. Jakob zum Beispiel ist der Stereotyp des erfolglosen Dauerstudenten, der von einer Misere in die nächste rutscht. Auch die ostdeutsche Jugend wirkt nicht minder unmotiviert und zudem oft alkoholisiert und aggressiv.

Der Roman liest sich flüssig, der Stil ist geschmeidig, zeitweise auch unterhaltsam. Die Herausforderungen der verschiedenen Generationen unter der Pandemie werden deutlich. Der Ansatz ist grundsätzlich spannend. Mich konnte die Haupthandlung rund um Richard zwar erreichen, zu vieles passierte aber noch drum herum.

Für mich war es der erste Roman dieses Autors. Vielleicht hatte ich zu große Erwartungen. Als reiner Unterhaltungsroman mit Tiefgang und aktuellem Bezug mag es funktionieren, ich hatte mir literarisch einfach mehr erhofft.



 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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Brandenburg
In dieser Familie wird aber nichts ausgelassen. So viel Unglück auf einem Haufen? Schon beim Lesen der Rezension ist man ein wenig gefrustet. Aber gut finde ich, dass man mal einen Roman hat, der sich nicht nur im Damals verliert und so ein Dauerstudent ist auch einmal eine Karikatur wert.
 
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