Nicolien begrüßt den Zuzug der neuen Nachbarn ins Mehrparteienhaus überschwänglich. Ihr Mann Maarten hingegen beschließt nach nur einer Begegnung, die beiden Männer völlig uninteressant zu finden. Der Kontakt zu Petrus und Peer ist zunächst bemüht freundlich, nimmt dann zusehends groteske Formen an. Die Auseinandersetzungen zwischen Maarten und Nicolien über die Nachbarn im Speziellen und Außenseiter im Allgemeinen werden immer fundamentaler. In fulminanten Streitszenen schafft J.J. Voskuil das bewegende und vor allem urkomische Porträt einer Ehe im Zeichen einer unlösbaren Frage. Dieses Puzzlestück aus Voskuils literarischem Universum, wie immer kongenial übersetzt von Gerd Busse, durfte erst nach dem Tod des Autors veröffentlicht werden. Zu groß war die Sorge, das Porträt der misslingenden Freundschaft könnte die realen Vorbilder verdrießen.Kaufen
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J.J. Voskuil (1926 – 2011) schrieb das Manuskript zu „Die Nachbarn“ bereits vor gut 20 Jahren. Da sich die Handlung offenbar an der erlebten Realität entlang bewegt, verfügte er, dass der Roman erst nach dem Tod der Protagonisten veröffentlicht werden soll. Voskuils Witwe kam diesem Vermächtnis 2011 nach, obwohl sie selbst einen großen Anteil am Hergang hat, der ein durchaus nachteiliges Licht auf sie selbst wirft, wie sie im Vorwort einräumt. Gerd Busse hat den Roman jetzt ins Deutsche übersetzt.
Ich-Erzähler Maarten ist seit Jahren mit Nicolien kinderlos verheiratet. Sie leben in einem Mehrfamilienhaus am Rande von Amsterdam. Als neue Nachbarn ins Haus ziehen, beobachtet das vor allem die nicht erwerbstätige Nicolien mit großem Interesse. Es handelt sich um zwei Männer. Petrus, der Ältere, wirkt zunächst wenig zugänglich, was sich ändert, als der jüngere Peer hinzukommt. Die Tatsache, dass die beiden Männer homosexuell sind, fasziniert Nicolien auf eigentümliche Weise. Sie stürzt sich mit aller Sympathie auf das Paar, sucht dessen Nähe und bietet ihre Freundschaft offensiv an. Maarten sieht die neuen Nachbarn wesentlich differenzierter, doch jegliche Kritik wird von Nicolien im Keim erstickt, indem sie ihrem Mann Diskriminierung der „Underdogs“ vorwirft. Nicolien sieht sich als Robin Hood der Ausgestoßenen, der Randgruppen. Sie idealisiert Petrus und Peer, entschuldigt deren teilweise rüdes, übergriffiges und verletzendes Benehmen. Die beiden Paare rücken immer näher zusammen, laden sich gegenseitig ein oder besuchen sich im Urlaub.
Was sich daraus entwickelt, ist ein zeitweilig durchaus amüsantes Kammerspiel. Die einzelnen Charaktere verfügen über auffällige und ungewöhnliche Eigenschaften, bei denen es eigentlich klar ist, dass sie nicht miteinander harmonieren können. Dass die Zusammenkünfte der beiden Paare trotzdem weitgehend konfliktfrei verlaufen, ist Maartens ausgeglichenem Wesen sowie Nicoliens Beharrlichkeit zu verdanken, alles gut zu finden, was Petrus und Peer sagen, tun oder denken. Nicoliens Unterstützung fußt allein auf der Tatsache, dass Schwule ihrer Meinung nach einen besonderen Schutzstatus genießen und quasi einen Freifahrtschein besitzen. Maarten gegenüber verhält sie sich wenig tolerant. Ihre Exzesse, Vorwürfe und Beschimpfungen sind rational schwer zu begreifen. Die ausufernden, oft an den Haaren herbeigezogenen Streitereien des Paares nehmen groteske Formen an.
J.J. Voskuil kann schreiben, er versteht es, insbesondere Dialoge gekonnt in Szene zu setzen. Der Text liest sich leicht, Gespräche wirken glaubwürdig und echt. Manche Szene erscheint bewusst überzeichnet, situative Komik blitzt immer wieder durch und ist gewollt. Anfangs fühlte ich mich an die Sketche von Loriot erinnert, herrlich dabei insbesondere Maartens trockene und pointierte Kommentare. Als Leser bekommt man ein anschauliches Bild von den Nachbarn. Voskuil entrollt sein Kammerspiel in zahlreichen Episoden, in denen die vier zentralen Figuren vorgestellt werden. Man wundert sich über die Dominanz des schwulen Paares, das Gastfreundschaft ausnutzt, Urlaubsplanungen torpediert oder ohne Empathie persönliche Kritik abfeuert. Zweifellos arbeitet Voskuil mit Schablonen. Spätestens wenn Petrus kundtut, dass er gerne „Hoden und Penis eines Stiers“ als Fleischmahlzeit verzehrt, wird das deutlich.
Petrus und Peer sind absolut keine sympathischen Figuren. Daran ändert auch ihre sexuelle Orientierung nichts. Die latente Verteidigung durch Nicolien entwickelt von daher skurrile Züge. Als Leser spürt man die zunehmende Spannung, eine Eskalation des Nachbarschaftskonflikts schwingt im Raum – allerdings weiß man lange nicht, in welche Richtung sie ausbrechen wird.
Ein straffes Lektorat hätte dem Text gut getan. Nicht jede Episode ist gleichmäßig interessant. Besonders nervig sind die von Nicolien ausgehenden Verbalattacken, die sich inhaltlich wiederholen und im Kern wenig Neues zutage fördern. Mancher mag über die Szenen dieser Ehe lachen können. Ich empfinde Nicoliens Verhalten nur peinlich sowie unreflektiert und störe mich zudem an dem übermittelten Frauenbild.
Am Ende fehlt mir auch eine klare Aussage. Als Antwort auf die überkorrekte Wokeness-Bewegung der letzten Jahre eignet sich der Roman leider nicht. Wahrscheinlich ist das Buch tatsächlich nur ein „Puzzlestück aus Voskuils literarischem Universum“, wie der Klappentext verspricht. Sein „urkomisches Portrait“ hat sich mir leider nicht erschlossen. Aber das mögen andere Leser vielleicht ganz anders beurteilen. Wem die „Büro-Reihe“ des Autors gefallen hat, der kommt gewiss auch hier auf seine Kosten.
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