Rezension Rezension (3/5*) zu Die Kakerlake von Ian McEwan.

ElisabethBulitta

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8. November 2018
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Die Mission der Kakerlaken

Ein ekelerregendes Tier, Ungeziefer … eine Kakerlake! Und gerade sie verwandelt sich in der 112-seitigen satirischen Novelle „Die Kakerlake“ von Ian McEwan, im November 2019 bei Diogenes erschienen, in einen Menschen. Doch nicht in einen gewöhnlichen Menschen, sondern gleich in den englischen Premierminister, Jim Sams, himself. Und schon bald soll sich herausstellen, dass dieser nicht der einzige Parasit in der britischen Regierung ist, nein, sie ist unterlaufen von diesen Schmarotzern. Allein schon dieser Umstand lässt erkennen, was der Autor von der Regierung seiner Heimat und der momentanen politischen Situation hält.
Doch von vorn. Ähnlich wie in Kafkas berühmtem Werk „Die Verwandlung“ findet sich Jim Sams, auch dieser Name neben der Verwandlungsidee an sich eine Hommage an den großen Vorgänger, eines Morgens „in eine ungeheure Kreatur“ verwandelt vor. Jedoch spielt sich dieser Prozess hier umgekehrt ab: Eine Kakerlake findet sich im Körper eines Menschen, des englischen Premiers, wieder. Nach einigen, literarisch leider wenig ausgearbeiteten Eingewöhnungsschwierigkeiten macht sich dieser daran, die Politik und Wirtschaft seines Landes zu revolutionieren. Er folgt seiner Mission, den „Reversalismus“ zu etablieren: „Kehren wir den Geldfluss um, und das gesamte Wirtschaftssystem, die Nation selbst gar, wird geläutert werden, gereinigt von allen Absurditäten, von Verschwendung und Ungerechtigkeit.“ Die Menschen zahlen keine Steuern mehr, nein, sie erhalten die Steuern vom Staat. Beim Einkauf bekommt man nicht nur die Waren, sondern gleich obendrauf auch noch den passenden Betrag. Dafür arbeiten Arbeitnehmer/innen allerdings nicht mehr für Geld, sondern sie arbeiten, um ihre Einkünfte loszuwerden, sprich sie ihrem Arbeitgeber auszuzahlen. Und damit dieses System auch gut funktioniert, soll gleichzeitig verboten werden, Geld „anzuhäufen“, zu sparen. Die Wirtschaft wird aufblühen! Wie abstrus diese Idee ist, stellt man allerdings spätestens fest, wenn man nachzuvollziehen versucht, wie dieses System im internationalen Handel funktionieren soll. Schnell steht für die klar denkende Leserschaft fest: Dieses kann nur in einer Isolation Großbritanniens enden. Um seine Absicht entgegen aller Vernunft durchzusetzen, erhält Sams durch andere Politiker/innen, die fast ausnahmslos verwandelte Kakerlaken sind, Unterstützung und greift zu politischen Mitteln, die der Realität sehr nahe kommen, in ihrer geballten und irrwitzigen Darstellung jedoch mehr als unlauter erscheinen.
Das Erscheinungsdatum des Romans sowie die Darstellung einzelner Charaktere und Abläufe lassen schnell klarwerden, was hier kritisiert wird: der Brexit. Die Übertreibungen und das Groteske führen Leserinnen und Lesern unverblümt vor Augen, was McEwan selbst von der Idee und den aktuellen politischen Praktiken hält. Insbesondere der Umstand, wie Sams seine Idee in den Medien durchsetzt, lässt tief blicken. Auf die Frage der deutschen Kanzlerin, warum Jim Sams das alles tue, gibt es nur eine Antwort seitens des britischen Regierungschefs: „Weil. Weil wir das nun mal tun.“ Was hat man von Politiker/innen zu halten, die nicht nur aberwitzig und egoistisch handeln, sondern darüber hinaus nicht einmal die Motivation für ihre eigenen Entscheidungen benennen können? Richtig: nichts! So wird die ganze Praxis des Brexit und ihrer Befürworter/innen an den Pranger gestellt.
Sprachlich ist der Roman ausgefeilt: McEwans Schreibstil ist literarisch und nicht ohne Anspruch, doch auch vor einem etwas derberen Ton schreckt der Autor nicht zurück – was eben sehr gut zum Inhalt und zur Realität, die dahintersteht, passt.
Allerdings fehlt es an einigen Stellen des Romans dann doch an Feinschliff: So sind die ersten Minuten in Sams neuem Leben zwar sehr ansprechend und plastisch geschildert, jedoch verliert sich die Kakerlake zu schnell, sodass von dem ursprünglichen Wesen nicht mehr viel übrig ist und nur noch Menschen agieren. Und auch wenn die Übertreibung der Satire immanent ist, hat es mich wenig angesprochen, dass fast die gesamte Regierung aus diesen Tieren besteht, denn dadurch geht die Eigentümlichkeit – und damit die Faszination – desselben leider verloren. An einigen Stellen driftet das Satirische fast in Klamauk ab: „Walking back to happiness, wuppaa oh yeah yeah.“ – Hier hatte ich beim Lesen förmlich tanzende Kakerlaken vor Augen, was ich persönlich ebenfalls sehr schade und dem Anliegen des Autors wenig angemessen finde.
Insgesamt hat man beim Lesen den Eindruck, als habe der Autor ein Sprachrohr gesucht (und gefunden), um sich seinen ganzen Frust über die aktuelle politische Lage von der Seele zu schreiben – allerdings sind Gefühle allein in der Regel ein schlechter Ratgeber. Daher fehlt es auch hier teilweise an Tiefe und Substanz, was dem eigentlichen Anliegen zuwiderläuft und höhere Ansprüche nicht unbedingt befriedigen kann. Dennoch handelt es sich bei „Die Kakerlake“ um ein Werk, das Denkanstöße mit Unterhaltung vereint und das ich – mit einigen Abstrichen freilich – zur Lektüre durchaus weiterempfehlen kann.


 

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