Rezension (3/5*) zu Die Jungfrau: Roman von Monika Helfer

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Jungfrau: Roman von Monika Helfer
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Eine Enttäuschung

Eigentlich dachte Monika Helfer mit „ Löwenherz“, dem Buch über ihren Bruder, das Schreiben über ihre eigene Familien- und Lebensgeschichte zu einem Ende gebracht zu haben. Doch nun hat sie nachgelegt, „ Die Jungfrau“. Hier nähert sie sich, über den Umweg Gloria, der Freundin, ihrem eigenen jugendlichen Ich an und erzählt dabei auch manches über ihr jetziges Leben.
Seit frühesten Schultagen waren Moni und Gloria Freundinnen. Beide waren die Kleinsten ihrer Klasse, beide waren Außenseiter. Doch ansonsten trennten sie Welten. Moni lebte seit dem frühen Tod der Mutter mit zwei ihrer Schwestern bei einer Tante und deren Familie; sieben Menschen auf engstem Raum in einer winzigen Wohnung in der Südtirolersiedlung. Gloria dagegen wohnte in einer riesigen Villa, gemeinsam mit ihrer Mutter. Über ihren Vater weiß sie nichts, erschafft sich einen in ihrer Phantasie.
Moni ist fasziniert vom Reichtum und dem Lebensstil, der dort gepflegt wird. Über Jahre hinweg verbringt sie jeden Tag bei der Freundin. Trotzdem ist die Freundschaft auch eine Last für sie, engt sie ein.
Später bricht der Kontakt zwischen den beiden Frauen ab, bis Moni an ihrem 70. Geburtstag einen Brief erhält. Gloria will sie vor ihrem Tod noch einmal sehen. Ein Wunsch, der einem Befehl gleichkommt.
Wie so oft, wenn man Menschen aus der Vergangenheit begegnet, verfällt man in alte Rollenmuster. So auch hier. Moni macht sich für den Besuch besonders chic, Gloria dominiert wie früher das Gespräch. Und sie bittet die Freundin: „ Ja, Moni, schreib eine Seite über mich, denn wenn ich sterbe, ist dann noch etwas von mir da.“
Es werden dann doch mehr als eine Seite, aber ein umfangreiches Buch ist es nicht geworden, die Geschichte von Gloria und Moni.
Monika Helfer schreibt wie gewohnt in extrem verdichteter Form und sie springt in den Zeiten, denn „ die Erinnerung schert sich wenig um Chronologie“. Episoden aus der Vergangenheit wechseln sich ab mit Verrichtungen in der Gegenwart, Gesprächen mit ihrem Mann und Reflexionen über das Schreiben. „ Es gehört ja zu den Glücksmomenten beim Schreiben, wenn ohne viel Nachdenken ein Satz entsteht, der den Schreiber selbst zum Nachdenken anregt.“
Deutlich wird dabei, dass dies keine Freundschaft auf Augenhöhe war. Moni fühlte sich oft unterlegen, nicht nur aufgrund ihrer Armut. Nein, Gloria galt auch immer als die Schönere; auf sie mit ihrem Schmollmund und ihrem hoch aufgebundenen Rossschwanz fielen die Blicke der Männer. Und auch noch nach vierzig Jahren kommt bei Moni der alte Groll wieder hoch. Dabei könnte Moni triumphieren. Hat sie nicht alles geschafft, während ihre Freundin mit dem glamourösen Namen nun alt und einsam in ihrer Villa lebt?
Was ist aus den Mädchenträumen von damals geworden?
Gloria wollte Schauspielerin werden, ein Beruf, der zu ihr passt, denn „ sie spielt“. Sie besteht sogar die Aufnahmeprüfung am renommierten Max Reinhardt Seminar in Wien, beginnt eine Affäre mit einem verheirateten Professor dort. Doch sie bricht ab, zieht zurück ins Haus ihrer Mutter, wo sie auch nach deren Tod bleibt, ja, deren Rolle einnimmt.
Moni dagegen hat nicht nur ihren Traum, Schriftstellerin zu werden erfolgreich umgesetzt. Nein, sie hat auch im Privaten eine weitaus bessere Bilanz vorzuweisen. Nach der frühen ersten Ehe, die gescheitert ist, lebt sie seit Jahrzehnten glücklich mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Michael Köhlmeier zusammen und ist Mutter von vier Kindern.
Während Gloria nach eigenem Bekunden immer noch Jungfrau ist.

Das klingt nun alles sehr interessant. Aber warum konnte mich dieses Buch überhaupt nicht erreichen? Es ist derselbe Monika-Helfer- Sound, der mir in „ Die Bagage“ und „ Vati“ so gefallen hat. Dieselbe Sprache, dicht und vieldeutig, mit klugen Beobachtungen und Reflexionen auch hier.
Was mich dort berührt und gepackt hat, hat mich hier emotional überhaupt nicht bewegt. Ich konnte im Verlauf der Lektüre immer weniger Interesse für diese Frauenfreundschaft aufbringen.
Gloria mit ihrem Exaltiertheit und ihrem manipulativen Verhalten hat mich genervt, obwohl man sie bedauern müsste. Aber auch Monika Helfer hat bei mir Sympathiepunkte verloren. Oder sollte ich die ehrliche und schonungslose Art, wie Monika Helfer ihre Moni porträtiert, bewundern?
Oder soll ich den gesamten Text als Roman lesen?
Irritiert hat mich schon, als ich in Interviews las, dass die Autorin ihre Figur Gloria aus verschiedenen Vorbildern konstruiert hat. Da die Eckdaten stimmen, bin ich hier von einem autofiktionalen Text ausgegangen. Aber dafür waren manche Episoden zu unglaubwürdig.
Auch wenn die Leserunde hier mir die Augen geöffnet hat für verschiedene Bedeutungsebenen und literarische Verweise, so lässt mich doch die Lektüre unbefriedigt zurück.
Die Autorin verhandelt spannende Themen, Herkunft und Klasse, Familie und Freundschaft, Prägungen und die Frage nach einem gelungenen Leben. Aber darüber habe ich schon bessere Texte gelesen. Schade!

von: Dagmar Schifferli
von: Nele Neuhaus
von: Orwell, George
 

Wandablue

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Na ja, bessere Texte (über ein Thema) gibt es immer!
Man muss niemanden bedauern, der allein in einer Villa leben darf.
Gibt es was Besseres? Ja, klar, Villa mit Aussicht. Aber vllt hatte die Villa auch diese!
Und mit M.K. verheiratet zu sein, demjenigen, der "Matou" schrieb - ich weiß nicht, beim Lesen jenes Romans habe ich mich oft gefragt, was das für ein Mensch sein muss, der sich solches ausdenkt. Mein Fall wärs nicht: ich stell mir vor, wie er daraus vorgelesen hätte -falls ich die Ehefrau gewesen wäre - und ich mich übergeben hätte. Ja, Monika ist bestimmt mit einem stabileren Magen gesegnet.
 

Barbara62

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Klar. Ich bin sicher, dass ein deutscher Villenbewohner glücklicher ist als ein Hüttenbewohner im Sudan.
Glücklicher und glücklich sind zwei paar Stiefel. Gloria leidet keinen Hunger, aber ob Einsamkeit und ein völlig missglücktes Leben so viel besser sind? Dass sie alle Trümpfe in der Hand gehabt hätte, im Gegensatz zum sudanesischen Hüttenbewohner, nützt ihr letzlich nichts mehr.
Eine ganz andere Frage ist natürlich, mit wem ich mehr Mitleid hätte: mit dem Hüttenbewohner selbstverständlich.
 

Literaturhexle

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mit dem Hüttenbewohner selbstverständlich.
Wobei ich mir von Weltenbummlern schon habe sagen lassen, dass sudanesische (oder vietnamesische oder...) Hüttenbewohner oft ein glücklicheres Leben führen als Menschen hierzulande. Alles eine Frage der Perspektive.
Wenn du Geld hast, sehnst du dich nach anderen Dingen, als wenn du keins hast.
(Bedürfnishierarchie)
 

alasca

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Wobei ich mir von Weltenbummlern schon habe sagen lassen, dass sudanesische (oder vietnamesische oder...) Hüttenbewohner oft ein glücklicheres Leben führen als Menschen hierzulande. Alles eine Frage der Perspektive.
Das hört und liest man immer wieder. Ich kann mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass sich wohlhabende Menschen mit solchen Glaubenssätzen ein ruhiges Gewissen verschaffen möchten.

Ich war letztes Jahr in Nepal. Die Subsistenzwirtschaft dort zu sehen, ist erschütternd. Sind sie gut drauf? Ja! Geht es ihnen gut? Nein!
 
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Literaturhexle

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Im Gegenzug sollten die wohlhabenden Menschen aber auch nicht ihre eigenen Ideale oder Maßstäbe als das Nonplusultra in die Welt tragen. Jedes Land hat das Recht auf sein eigenes Tempo und jede Entwicklung hat ihre Schattenseiten.
 

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... und jeder darf selbst entscheiden, wie er sein Glück findet. Es scheint keine direkte Verbindung zu Wohlstand zu geben- auch wenn viele von uns das denken oder sich nicht vorstellen können, dass man unter schlechten Bedingungen sein Glück finden kann. ;)
 
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Wandablue

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auch wenn viele von uns das denken oder sich nicht vorstellen können, dass man unter schlechten Bedingungen sein Glück finden kann
Also "sein Glück finden" ist ein großes Wort in diesem Zusammenhang. Eine Zeitlang kann man durchaus zufrieden sein, vor allem in der Jugend, man ernährt sich von Hoffnung, Sonne und Lieppe.
Solange die Natur verfügbar wäre, aus der man sich ernähren kann, wäre alles soweit in Ordnung. Aber leider wird diese Verfügbarkeit für Jedermann mehr und mehr eingeschränkt.
Fatalismus, Religion, Ideologie - kann alles helfen. Aber wenn man zusehen muss, wie die eigenen Kinder verhungern (Jemen) oder man Gewalt (gerne verbunden mit Armut) erleidet, ist es schnell mit dem "Glück" vorbei. Wenn man dann alt wird oder krank - kein Krankenhaus in der Nähe, kein Geld für einen Arzt, etc. etc. ist es auch schnell vorbei mit dem Glück. Dann bleibt wirklich nur die Hoffnung auf die Wiedergeburt. // Darüber kann man endlos diskutieren. Sollen wir ein Do-Thema daraus machen?