Rezension Rezension (3/5*) zu Die Erfindung des Countdowns: Roman von Daniel Mellem.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Erfindung des Countdowns: Roman von Mellem, Daniel
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Hochgelobt und doch gescheitert: Der Physiker Hermann Oberth

Hermann Oberth wurde 1894 in Hermannstadt (Siebenbürgen) geboren. Er gilt als bedeutendster Pionier der Raumfahrttechnik und der Raketen-Wissenschaften. Sein Vater war Arzt mit der festen Erwartung, dass der Sohn in seine Fußstapfen treten und ein Medizinstudium absolvieren würde. Hermann jedoch hatte schon früh andere Ziele. Inspiriert durch die Romane von Jules Verne träumte er davon, eine Rakete zu bauen, mit der man ins All fliegen kann. Bereits in der Schule entwickelt sich der Junge zum Außenseiter: „Die Lehrer kannten nichts anderes als altgriechische Vokabeln und antike Jahreszahlen. Sie alle wollten nur wissen, was in der Vergangenheit einmal gewesen war. Niemanden hier schien zu interessieren, was die Zukunft bereithielt.“ (S. 23)

Hermanns Leidenschaft bleiben die Naturwissenschaften, er fokussiert sich auf seine Forschungen und Berechnungen, er ist überhaupt nicht lebenspraktisch veranlagt. Auch im ersten Weltkrieg erkennt man schnell, dass er als Kämpfer nicht taugt und stellt ihn in den Sanitätsdienst, wo er sich ebenso schwer tut. Während der Nachtdienste im Krankenhaus seines Vaters kann er weiter an seiner Rakete arbeiten. Er sieht in ihr nicht nur die Möglichkeit, auf den Mond zu fliegen, sondern auch Kriege schneller und unblutiger zu entscheiden: „„Wem soll eine Weltraumrakete helfen?“ „Es kann ja auch eine Raketenwaffe sein. Deutschland wäre so stark gerüstet, dass niemand mehr einen Krieg wagt.““ (S. 71) Auf solchen Überlegungen beruht viel später das System der militärischen Abschreckung.

Im Sommer 1918 heiratet er die Schneiderin Tilla, mit der er im Laufe der Jahre vier Kinder bekommt. Nach dem Krieg beginnt er das ersehnte Physik-Studium in Göttingen, der Stadt, in der die namhaften Forscher zu Hause sind. Mittlerweile gehört Siebenbürgen zu Rumänien und er sieht sich rassistischen Anfeindungen ausgesetzt: „Hermann erzählte davon, dass die Deutschen ihn auf einmal für einen Rumänen hielten. Der Türke nickte: „Die Deutschen sind das Volk der großen Taten und der kleinen Seelen.“ (S. 81) Wie sehr sich dieser Satz noch in der Geschichte bewahrheiten soll…

Doch nicht nur die Staatsangehörigkeit macht ihm Probleme. Bei seinen Mitbewohnern gilt er schnell als versponnen. Auch die Göttinger Professoren können mit seinen futuristischen Grundlagen für eine neue Raketentechnik wenig anfangen. Krampfhaft sucht er einen Doktorvater, wird aber nur von einem zum anderen geschickt. Schließlich veröffentlicht er seine Arbeit „Die Rakete zu den Planetenräumen“ privat.

In den kommenden Jahren bleibt Oberth seinem Ziel treu. Er wird von Filmemacher Franz Lang engagiert, um eine reale Rakete für den Film „Die Frau im Mond“ zu bauen. Bei den Filmarbeiten wird auch der Countdown erfunden (Titel!). Mit Wernher von Braun bekommt er einen Assistenten, der ihm von Anfang an große Bewunderung entgegenbringt und der wiederholt Einfluss auf sein Leben nehmen wird. Oberth muss erkennen, dass die Filmbranche mehr auf Effekte denn auf Fakten setzt. Immer wieder kommt er seinem Ziel näher, kann es jedoch nicht verwirklichen.

Daniel Mellem hat seinen Roman analog zum Countdown in elf Kapitel unterteilt, die beginnend mit 10 rückwärts gezählt werden. Diese Idee hat mir sehr gut gefallen. Mit jedem Kapitel wird eine Episode aus dem Leben des berühmten Mannes erzählt. Dabei legt Mellem weniger Wert auf die wissenschaftlichen Fakten, die den Leser leicht überfordern würden, sondern er zeigt den Menschen Hermann Oberth mit seinen Widersprüchen und Ambivalenzen. Der Leser lernt dadurch nicht nur den Physiker kennen, der laufend an Grenzen stößt, missverstanden wird und dem der Ruhm erst im höheren Alter zuteilwird. Oberth kann nicht gut kommunizieren, sich nicht in andere Personen hineinversetzen – auch nicht in die Bedürfnisse seiner Frau oder die Wünsche seiner Kinder. Man lernt ihn auch als Patrioten kennen, der ein Zweckbündnis mit den Nationalsozialisten eingeht, um auf der Forschungsstation Peenemünde seine Raketenträume zu verwirklichen. Auch wenn er kurzzeitig Mitglied der Partei wird, ist er kein politischer Mensch. Nach dem Zweiten Weltkrieg führt ihn eine weitere Station nach Huntsville/USA.

Tilla ist die Konstante in Oberths Leben. Sie hat all die Eigenschaften, die dem Theoretiker fehlen. Sie hält die Familie zusammen, sorgt für den Lebensunterhalt, wenn er keine Einkünfte hat. Sie ist die starke Frau, die Hermann in jeder Lebenslage den Rücken freihält. Sie unterstützt ihn, holt ihn aber auch zurück, wenn er mit seinen Raketenträumen abzuheben droht.

Der Roman hat mir eine Persönlichkeit nahegebracht, von der ich bisher nichts gehört hatte. Hermann Oberth wird als genialer Wissenschaftler gezeichnet, der jedoch große Defizite im zwischenmenschlichen Bereich hat. Zahlreiche Szenen zeigen ihn als Scheiternden. Es ist klar, dass man auf knapp 300 Seiten eine Biografie nicht auserzählen kann. Manche Entwicklungen gingen mir zu schnell, immer standen der Traum von und die Forschungen an der Rakete im Mittelpunkt, was Wiederholungen mit sich brachte, die mir persönlich die Lesefreude trübten. Ein wissenschaftlich interessierterer Leser wird das wahrscheinlich anders empfinden. Oberth blieb mir weitgehend fremd. Als Visionär arbeitete er unermüdlich der Durchbruch blieb ihm jedoch verwehrt. Ich konnte seine Weltfremdheit, seine fehlende Bodenhaftung, die teilweise skurrile Formen annahmen, nicht nachvollziehen und frage mich, ob die Fiktion hier der realen Persönlichkeit gerecht wird. Hermann Oberth war seiner Zeit weit voraus, heute würde man ihn wohl als „Nerd“ bezeichnen. Umso stärker ist mir seine kluge Frau Tilla ins Bewusstsein gerückt, die in der Lage ist, mit allen Situationen, die das Leben mit sich bringt, fertig zu werden. Tilla gibt dem Roman die persönliche Note, sie wurde sehr sympathisch dargestellt.

Auf gut lesbare Weise hat mir der Roman den Entrepreneur Hermann Oberth, seine Geschichte, seine Ziele und seine Ambivalenzen näher gebracht. Für mich wurde er in vielen Situationen zur tragischen Figur, über die ich bei aller Tölpelhaftigkeit nicht lachen konnte. Beachtlich finde ich den konsequent durchgehenden locker-leichten Schreibstil des Autors, dem es gelingt, die technischen Probleme Leser- und Laien-tauglich zu kolportieren.


 

Wandablue

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18. September 2019
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Schön geschrieben, was ich zu Ruth sagte, muss ich fairerweise auch hier sagen: man muss das Buch nicht mehr lesen, wenn man diese Rezension liest. (Na ja, spart Zeit).
 

Literaturhexle

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Schön geschrieben, was ich zu Ruth sagte, muss ich fairerweise auch hier sagen: man muss das Buch nicht mehr lesen, wenn man diese Rezension liest. (Na ja, spart Zeit).
Für mich ist es in einer Rezension schon wichtig, zu erfahren, worum es geht. Vieles, was ich geschrieben habe, ist Allgemeingut. I.A. bemühe ich mich, dass die "Nacherzählung" die ersten 60 Seiten nicht übersteigt.
Hier hatte ich das besondere Problem, dass ich meine 3 Sterne begründen musste. Diese Begründung liegt im Kern an der Darstellung Oberths als weltfremder Nerd. Dadurch musste ich ein bisschen ausholen und plaudern;)