Rezension (3/5*) zu Der Aufgang von Stefan Hertmans

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29. März 2022
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Mainz
Buchinformationen und Rezensionen zu Der Aufgang von Stefan Hertmans
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Die Geschichte hinter dem Haus

"Der Aufgang" ist das erste Werk aus der Feder von Stefan Hertmans, das ich las. Ich ging mit der Erwartungshaltung an die Lektüre, dass ich eine Art psychologische Miniaturstudie in den Händen hielt, in der ich viel erfahren würde über Motive und Hintergründe eines NS-Kollaborateurs, der in der NS Zeit das Haus bewohnte, das später in Hertmanns Besitz gelangte. Dabei hätte es mich nicht gestört, wenn die historischen Fakten mit fiktiven Elementen verwoben worden wäre. Da ein Roman ein fiktionales Werk ist, darf ein Roman dies meines Erachtens. Um es vorwegzunehmen: Diese Erwartungshaltung hat sich nicht erfüllt. Zwar steht die Person des SS- Offiziers Willem Verhulst im Vordergrund der Geschichte. Doch anstelle eines psychologisch dichten Romans über die Motive und Beweggründe für sein Handeln, erwartet die Leserschaft hier eine Art Reportage über alles, was der Autor Hertmans via Recherche über die Person Verhulst in Erfahrung bringen konnte. Wenn man so will, ist die Einordnung als Roman streng genommen also ein Etikettenschwindel. Ich bin darauf "reingefallen" und muss zugeben, dass ich das Buch wohl eher nicht gelesen hätte, wäre mir bewusst gewesen, dass es sich eher um eine nüchterne und vergleichsweise trockene Schilderung gesammelter Fakten handelt. Doch worum geht es genau?

Stefan Hertmans entschließt sich ein altes Haus in Gent zu kaufen, von dessen Vergangenheit und Geschichte er nichts ahnt. Das Haus ist recht herunter gekommen, was zu Beginn des Buches auch recht bildhaft und atmosphärisch vermittelt wird. Als er erfährt, dass darin zur NS-Zeit ein SS-Offizier mit seiner Familie wohnte, beginnt er Nachforschungen anzustellen. Er wird angetrieben von dem tiefen Bedürfnis nach Verständnis. So sammelt er Dokumente aller Art und führt Interviews mit den noch lebenden, inzwischen ins Alter gekommenen Kindern von Willem Verhulst. Alle gesammelten Materialien trägt er zusammen und verarbeitet diese in "Der Aufgang". Dabei geht er zunächst zurück in die Kindheit Willems, die alles andere als leicht war. Willem leidet unter einer Augenkrankheit und büßt Sehkraft ein, in der Schule wird er gemobbt; auch muss er den Tod seiner Mutter früh verkraften. Er lernt Ungerechtigkeit und Brutalität kennen, was ihn sicher mitgeprägt hat. Im Laufe des Lebens jedoch begegnet er auch wohlwollenden Menschen; insbesondere Frauen zeigen ihm gegenüber durchaus Interesse.

Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratet er recht bald Mien. Aufgrund der politischen Umstände in Belgien und Veränderungen ihres Mannes, merkt sie bald, dass etwas im Gange ist. Die Familie zieht in das besagte Haus, wo fortan SS-Kollegen ein und ausgehen. Mien versucht, diese Seite ihres Lebens vor den Kindern abzuschirmen. Während die politischen Umstände Willem schleichend zu dem gemacht haben, der er ist, nimmt seine politische Gesinnung nun immer deutliche Konturen an. Vieles davon erfährt man auch im Rückblick, als Willem für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden soll...

Mehr verrate ich an dieser Stelle nicht. Wie gesagt, ging ich mit einer bestimmten Erwartungshaltung an die Lektüre heran, die so nicht erfüllt wurde. Dennoch muss man Hertmans zugestehen, dass er diese Geschichte rund um Willem sehr gut recherchiert hat. Es wird wirklich sehr viel an Materialien zusammen getragen, um ein möglichst präzises Bild von Willem zu zeichnen. Phasenweise ist die Erzählung dabei besonders atmosphärisch, zum Beispiel bei der Beschreibung des herunter gekommenen Hauses: Man glaubt fast, den Schimmelgeruch in der Nase zu haben, von dem das Gebäude durchdrungen ist. Als Reportageroman verdient "Der Aufgang" sicher Anerkennung.

Erwartet man jedoch einen Roman, wie es bei mir der Fall war, fallen vor allem auch Leerstellen auf: Was macht die Person Willem Verhulst im Vergleich zu anderen "zweifelhaften Gestalten der NS-Zeit" zu einer besonderen, über die es sich lohnt, zu detailliert zu berichten? Wie ist Willem zu dem geworden, der er letztlich war? Wie sieht sein Innenleben aus? Was hat ihn angetrieben? Ich hätte gerne mehr psychologischen Tiefgang gehabt.

Selbstredend ist wohl, dass man sich schwer tut, Sympathien für Willem zu entwickeln. Abgesehen von zweifelhaften Taten und mangelnden Einsichten, stieß mir insbesondere sein Verhalten gegenüber seiner Frau Mien auf. Mit dieser wiederum habe ich mitgefühlt, konnte aber die vielen Zugeständnisse, die sie macht, auch nicht immer verstehen - selbst unter Berücksichtigung des Frauenbildes zu dieser Zeit.

Insgesamt ist "Der Aufgang" ein Werk, das ich teils sehr gut und atmosphärisch geschrieben, teils aber auch sehr langatmig und auch langweilig empfand. Wer sich für die Lektüre des Werkes interessiert, sollte sich vorher klar machen, dass es sich nicht um einen konventionellen Roman handelt, sondern mehr um eine sehr detailgetreue Berichterstattung, wie sie für eine Reportage typisch ist. Ich denke, hier ist besonders entscheidend, mit welcher Erwartungshaltung man an die Lektüre herangeht.