Rezension Rezension (3/5*) zu Das Verschwinden der Stephanie Mailer: Roman von Joël Dicker.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Das Verschwinden der Stephanie Mailer von Joël Dicker
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Nicht Dickers bester Roman...

Es ist der 30. Juli 1994 in Orphea, ein warmer Sommerabend an der amerikanischen Ostküste: An diesem Tag wird der Badeort durch ein schreckliches Verbrechen erschüttert, denn in einem Mehrfachmord sterben der Bürgermeister und seine Familie sowie eine zufällige Passantin. Zwei jungen Polizisten, Jesse Rosenberg und Derek Scott, werden die Ermittlungen übertragen, und sie gehen ihrer Arbeit mit größter Sorgfalt nach, bis ein Schuldiger gefunden ist. Doch zwanzig Jahre später behauptet die Journalistin Stephanie Mailer, dass Rosenberg und Scott sich geirrt haben. Kurz darauf verschwindet die junge Frau ...

Erzählt wird dieser Roman auf zwei Zeitebenen: einmal rund um die Premiere des ersten Theaterfestivals in Orphea im Jahr 1994, als der Vierfachmord geschah, und dann kurz vor der Premiere des 20. Theaterfestivals 2014, als die Ermittlungen zum damaligen Vierfachmord plötzlich in Frage gestellt werden. Ursache für die aufkommenden Zweifel ist die Journalistin Stephanie Mailer, die ein Buch über die damaligen Geschehnisse zu schreiben gedenkt und sich in der kleinen Stadt an der amerikanischen Ostküste niederlässt. Ihre Recherchen sorgen für zunehmende Unruhe, doch wirklich greifbar sind ihre Andeutungen nicht:


"Sie ist Journalistin und behauptet, wir hätten uns 1994 geirrt. Angeblich haben wir damals bei der Ermittlung etwas übersehen und uns den Falschen geschnappt." --- "Aber das ist doch Unsinn! Was hat sie genau gesagt?" --- "Wir hätten die Lösung direkt vor Augen gehabt und sie nicht gesehen." (S. 18)


Jesse Rosenberg will bereits in wenigen Tagen in Pension gehen, als Stephanie Mailer ihn aufsucht und von ihren Zweifeln an den damaligen Ermittlungen informiert. Sein Kollege Derek Scott hat sich nach den Ereignissen 1994 in die Verwaltung versetzen lassen und ist schon lange nicht mehr im aktiven Polizeidienst. Doch als Stephanie Mailer verschwindet, übernehmen die beiden Ermittler der State Police den Fall - und rollen auch die Geschehnisse aus dem Jahr 1994 wieder neu auf. Womöglich hat die Journalistin Recht und der Falsche wurde damals beschuldigt?

Erzählt wird hier meist aus der wechselnden Perspektive von Jesse und Derek, wobei Rosenberg die Ereignisse aus der Gegenwart schildert und Scott von den vergangenen Geschehnissen aus dem Jahr 1994 berichtet. Anna Kanner kommt als Ermittlerin der örtlichen Polizei als Verstärkung hinzu und stellt sich als starke Figur heraus.

Zwar geht es in diesem Roman um die Ermitlungen in Vergangenheit und Gegenwart, doch ist dies kein wirklicher Krimi. Joël Dicker führt hier etwa 30 Charaktere ein, die für ihn alle von Bedeutung sind und von denen er lt. eigener Aussage in einem Interview möchte, dass sie dem Leser alle im Gedächtnis haften bleiben. Ihm ging es darum, von den Menschen in der kleinen Stadt zu erzählen, und tatsächlich hat nicht jede Figur etwas mit den Fällen zu tun.

Schwerpunktmäßig geht es dem Autor (lt. Interview) um den Blick in die Vergangenheit der einzelnen Charaktere - jeder scheint da etwas erlebt zu haben, was ihn brach. Vereitelte Lebensentwürfe, Enttäuschungen, Schuldgefühle - die Vergangenheit hinterließ bittere Spuren. Leider geriet die Figurenzeichnung diesmal oft sehr klischeehaft und überzeichnet, so dass einzelne Charaktere sehr unglaubwürdig wirkten. Hierauf angsprochen, antwortete Dicker in dem Interview:


"Auch der Joël, der da sitzt und schreibt, hat eben gelegentlich das Bedürfnis zu lachen. Deshalb entwarf ich diesen Ostrowski – zugegeben, sehr überzeichnet. Es gab Momente, in denen der erfolgreiche Autor in mir zur Vorsicht warnte, weil er schon die negative Kritik der Rezensenten vorausahnte."


Durch die Vielzahl der Charaktere und den ständigen Wechsel von Personen, Handlungssträngen, Zeit und Ort gerät der Roman zudem noch sehr zerfasert. Was anfangs wie ein geschickter Kunstgriff wirkt, erweist sich letztlich als reichlich langatmig und für den eigentlichen Fall nicht zielführend. Wenn man dem Autor (lt. Interview) glauben darf, wusste er zu Beginn des Schreibens selbst nicht, wer denn eigentlich der Mörder war. Dies ist dem Roman für mein Empfinden auch anzumerken.

Dass Joël Dicker schreiben kann, hat er für mich schon mit 'Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert' bewiesen. Auch in diesem aktuellen Roman sagte mir der Schreibstil wieder sehr zu, ebenso wie die Art des Aufbaus der Erzählung. Allerdings hat sich Dicker m.E. weder mit der Überzeichnung der Figuren noch mit der Mischung aus Krimi und Roman einen Gefallen getan. Nicht Fisch noch Fleisch, könnte man flapsig sagen - und dadurch von allem zu viel, einiges zudem zu konstruiert, unnötig und/oder unvorstellbar. Nur gut, dass das Lektorat immerhin dafür sorgte, dass die ursprünglich doppelte Seitenzahl und weitere 10 Figuren nicht realisiert wurden.

Immerhin nervten mich die genannten Schwächen nicht so arg, dass ich den Roman gar nicht mochte. Ich habe ihn durchaus gerne gelesen und wurde am Ende auch mit einem erhöhten Spannungsbogen belohnt. Doch kann das Fazit für mich leider nur lauten: dies ist definitiv nicht Dickers bester Roman.


© Parden