Rezension Rezension (3/5*) zu Das verlorene Kind: Roman von Michel Bussi.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Versteckt im Gedächtnis eines Kindes

Im Allgemeinen ist ein Leser bis zu einem gewissen Punkt bereit, die Geschehnisse in einem Buch erstmal zu akzeptieren - auch wenn sie ihm eigentlich unglaubwürdig erscheinen. Er gewährt dem Autor sozusagen einen Vertrauensvorschuss, erwartet aber im Gegenzug, dass dieser im Laufe der Geschichte alle Unklarheiten beseitigt, alles Unglaubwürdige doch noch glaubhaft erklärt und alles logisch und schlüssig auflöst.

Ich stelle mir das immer so vor wie ein Gummiband, das man ganz schön weit dehnen kann, ohne dass es reißt. In meinen Augen sind die besten Bücher oft die, wo ein Autor das bis zum Letzten ausreizt und dann in letzter Minute die perfekte Auflösung aus dem Hut zaubert.

412 Seiten lang funktionierte das für mich in diesem Buch wunderbar. Es gab die ein oder andere kleine Unstimmigkeit, ein paar winzige Details, die nicht ins Bild zu passen schienen, vor allem aber zahllose unerwartete Wendungen und falsche Fährten... Ich fieberte voll gespannter Erwartung mit, stellte eine Theorie nach der anderen auf und hatte beim Lesen einfach eine Menge Spaß. Irgendwann begann der Autor dann mit der Aufklärung des Falls, und die fand ich überraschend, aber stimmig . auch wenn mir ein wenig der Kopf schwirrte ob der Komplexität und Vielschichtigkeit des Ganzen.

Bis Seite 412 war es für mich ein Buch, dem ich 4 oder 4.5 Sterne geben würde. Dann las ich die restlichen 20 Seiten - und mit einem fast hörbaren Knall flogen mir die Reste des gerissenen Gummibands um die Ohren. Dann flog das Buch, denn das habe ich tatsächlich vor Entrüstung quer durchs Zimmer geschmissen. Dann habe ich es aufgehoben. Und dann habe ich es nochmal geschmissen.

Was für eine Enttäuschung. Nein, mir kann niemand erzählen, dass dieses Ende in der Realität auch nur ansatzweise möglich wäre. Ich hatte den Eindruck, dass der Autor unbedingt für jeden der noch lebenden Charaktere und deren Konflikte eine blitzsaubere Auflösung haben wollte, und das erschien mir unsäglich konstruiert.

Aber noch ein paar Gedanken zum Buch bis zu diesem Punkt:

Auf dem Titelbild steht "Roman", nicht "Krimi" oder "Thriller", und dem würde ich zustimmen, Der Kriminalfall ist zwar wichtig, aber eigentlich kam er mir eher vor wie die Bühne für das zentrale Thema des Buches: Mutterschaft.

Die weiblichen Charaktere verkörpern jeweils verschiedene Aspekte davon: die Trauer nach einer Fehlgeburt, die schmerzhafte Sehnsucht eines unerfüllten Kinderwunsches, die Hilflosigkeit, wenn dem eigenen Kind etwas Schlimmes zustößt, und immer wieder die bedingungslose Mutterliebe. Michel Bussi beschreibt das feinfühlig, dabei aber nicht rührselig, und erschafft bei aller Spannung immer wieder eine nachdenklich-stimmende Atmosphäre.

Interessant ist auch, dass man durch die Figur des Kinderpsychologen Vasile viel darüber erfährt, wie das Gedächtnis funktioniert, besonders das Gedächtnis kleiner Kinder. Ein Großteil der Geschichte beruht darauf, dass dieses sowohl sehr formbar als auch sehr begrenzt ist, und das fand ich sehr originell.

Der kleine Malone ist seinem Alter weit voraus, und ich war mir nicht immer sicher, ob ich das noch glaubhaft fand... Aber er ist ein liebenswerter, cleverer kleiner Kerl, mit dem ich dennoch stets mitgefühlt habe.

Die anderen Charaktere wirkten auf mich sehr unterschiedlich.

Manche fand ich komplex, gut geschrieben und interessant, auch wenn sie mir manchmal ein klein wenig überzogen vorkamen. So ist die 40-jährige Commandante Augresse zum Beispiel vollkommen fixiert darauf, dass ihr schnell noch jemand ein Kind machen muss, bevor sie zu alt wird, und jeder Mann, den sie trifft, wird nach seiner möglichen Tauglichkeit als Vater bewertet.

Andere erschienen mir ein wenig flach, wie zum Beispiel der bösartige, skrupellose und gewalttätige Alexis Zerda. Ich hatte das Gefühl, dass er darüber hinaus keine Eigenschaften hatte.

Der Schreibstil gefiel mir sehr gut, und auch die Übersetzung kam mir gut gelungen vor. Michel Bussi hat einen sehr prägnanten "Tonfall" Je nach Szene sind die Sätze knapp, klar und reduziert, manchmal aber auch bildlich und voller Atmosphäre.

Abschließend noch ein paar Worte zu Logik und Schlüssigkeit:

Der Teufel liegt im Detail - so gibt es zum Beispiel ein elektronisches Gerät, dass über Monate hinweg jeden Tag benutzt wird, ohne dass der Akku jemals nachgeladen wird. Das Kind soll dreieinhalb Jahre alt sein, die Mutter ist aber schon vor fünf Jahren in Mutterschutz gegangen. Es gibt noch andere kleine Unstimmigkeiten, die nie aufgelöst werden, und für mich ist das immer wie ein Steinchen im Schuh.

Fazit:
Bis Seite 412 stimmte für mich bei diesem Buch eigentlich alles: ich fand es enorm spannend, mit einer originellen, interessanten Grundidee und Charakteren, mit denen ich gut mitfühlen konnte. Auch der Schreibstil gefiel mir sehr.

Bis zu diesem Punkt gefiel mir auch die Auflösung des verwickelten Kriminalfalls. Ich hatte den Eindruck, dass die ganzen losen Enden so nach und nach aufgewickelt wurden, und das schlüssig und glaubhaft - eins dieser Bücher, die man am besten nochmal liest um zu schauen, welche Hinweise man übersehen oder falsch verstanden hat. Aber das Ende machte das für mich dann zunichte, denn das fand ich absolut unglaubwürdig. Es war dieses an sich doch sehr guten Buches wirklich nicht würdig.

Wegen des Endes wurde für mich aus einem 4,5-Sterne-Buch leider ein 3-Sterne-Buch. Dennoch würde ich das Buch durchaus empfehlen (mir Vorwarnung, was das Ende betrifft), denn bis dahin war es ja sehr unterhaltsam.


 

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