Rezension Rezension (3/5*) zu Das gerettete Kind: Roman von Renate Ahrens.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
5.857
7.739
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Buchinformationen und Rezensionen zu Das gerettete Kind: Roman von Renate Ahrens
Kaufen >
Drei Frauen, drei Generationen, Sprachlosigkeit...


Irma schaut mit ihren 86 Jahren auf ein langes Leben zurück und hat gerade einen Herzinfarkt überlebt. Sie wohnt seit dem Tode ihres Mannes vor nunmehr 20 Jahren alleine in ihrem Haus in Dublin, bekommt aber nahezu täglich Besuch von ihren Zwillingssöhnen Jeremy und Thomas, die sie gemeinsam mit ihren Frauen liebevoll umsorgen. Wenig Kontakt hat Irma dagegen zu ihrer Tochter Leah, die sie einfach immer nur als 'schwierig' erlebt.

Leah ist mit ihren 48 Jahren deutlich jünger als ihre Zwillingsbrüder, hat aber nie das Gefühl gehabt, das 'Nesthäkchen' der Familie zu sein. Die Atmosphäre ihrer Kindheit beschreibt sie als kühl und oftmals zurückweisend, und der Rückzug von ihrer Mutter und ihren Brüdern erscheint ihr bis heute als einzige Möglichkeit, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen.


"Mir schießen Tränen in die Augen. Irma und ich haben uns nichts zu sagen, jede Begegnung hat etwas Quälendes (...) So war es immer schon. Warum habe ich eine so unnahbare Mutter? Ich weiß es nicht. Aber ich muss es aufgeben, daran etwas ändern zu wollen. ich ertrage es nicht, dass sie mich ständig von neuem zurückweist."


Leah ist nicht glücklich mit ihrem Leben. Ihr Mann hat sie wegen einer Jüngeren verlassen und mit dieser eine neue Familie gegründet, und ihre 18jährige Tochter kapselt sich zunehmend von ihr ab. Ungeliebt fühlt sich Leah und stürzt sich in ihre Arbeit und das Joggen, um ihrem Tag Struktur zu verleihen - und um sich zu spüren. Dabei merkt sie kaum, dass sie ihrer Tochter oftmals ebenso vor den Kopf stößt wie seinerzeit und bis heute ihre eigene Mutter.

Rebecca schließlich ist mit ihren 18 Jahren eine offene, neugierige junge Frau, die nach ihrem Schulabschluss noch nicht so recht weiß, wie sie ihre Zukunft planen soll. Täglich schwimmt sie ihre 1000 Meter, weiß das Leben zu genießen und pflegt ihre Freundschaften. Aber sie trägt auch ein Geheimnis mit sich herum, von dem ihre Familie niemals erfahren darf. Die Tatsache, dass sie seit einigen Wochen einen Freund hat, ist an sich nichts Verwerfliches - aber er stammt nicht aus Irland, sondern ausgerechnet aus Deutschland. Alles, was mit dieser Nation in Verbindung gebracht werden kann, ist nämlich in Rebeccas Familie tabu. Und nun muss Jonas nach seinem Auslandsjahr wieder zurück nach Hamburg...


"Jonas zieht mich zu sich heran und legt mir die Hände auf die Schultern. 'Warum kommst du nicht für eine Weile nach Hamburg? Das habe ich dich schon seit Wochen fragen wollen.' - Ich habe es geahnt, dass es darauf hinauslaufen würde. - 'Du bist gerade mit der Schule fertig, weißt noch nicht, was du studieren willst. Das ist der ideale Zeitpunkt.' - 'Ja...' - 'Ich fände es super. Stell dir vor, wir beide in Hamburg! Wir könnten an der Elbe picknicken, Radtouren ins Alte Land machen und die Nächte in meinen Lieblingsclubs durchtanzen.' - Was soll ich ihm antworten? Ich werde niemals nach Deutschland gehen können. Den Grund dafür kann ich ihm nicht sagen. Er würde es nicht verstehen, niemand würde es verstehen."


Rebecca sucht schließlich das Gespräch mit ihrer Großmutter, zu der sie immer schon einen guten Kontakt hatte. Sie wagt es letztendlich, ihr von ihrer großen Liebe zu erzählen und von ihrem Wunsch, für eine Zeitlang nach Deutschland zu gehen. Und Irma versteht und unterstützt ihre Enkelin. Doch gleichzeitig wird dadurch ihre Vergangenheit lebendig, die sie seit Jahrzehnten so erfolgreich verdrängt hat. Ein dunkles Kapitel ihrer Geschichte bricht sich erneut Bahn und droht Irma zu überrollen.


"Die frühen Morgenstunden sind die schlimmsten. Fast jede Nacht liege ich wach und spüre, wie in mir die Gedanken kreisen. Je älter ich werde, desto genauer erinnere ich mich an früher. Dabei will ich alles vergessen. Andere Menschen in meinem Alter klagen über ihr nachlassendes Gedächtnis. Ich wünschte, meins wäre schlechter."


Doch die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ist nicht nur schmerzhaft. Indem Irma auch mit Hilfe alter Tagebucheintragungen den jüdischen Kindertransport von Hamburg nach Großbritannien noch einmal erlebt, auf den sie 1939 als Zwölfjährige geschickt wurde, und damit verbunden all ihre damaligen Ängste, ihre Zweifel, die Reise ins Ungewisse, den Verlust ihrer Eltern, beginnen die alten Wunden allmählich zu heilen. Und ihre Enkelin Rebecca mit all ihren Fragen und Nachforschungen ist Irma dabei eine große Hilfe.

Eine spannende Konstellation hat Renate Ahrens hier geschaffen mit den drei Frauen aus drei verschiedenen Generationen. Abwechselnd wird aus der jeweiligen Ich-Perspektive von Irma, Leah und Rebecca erzählt, so dass der Leser einen Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt aller drei Personen erhält. Leider kamen mir die Charaktere dabei kaum nahe. Die Erzählung wirkte auf mich oftmals wie eine recht nüchterne Berichterstattung, so dass ich die geschilderten Emotionen zwar zur Kenntnis nehmen, aber kaum einmal mitempfinden konnte. Das hätte ich mir anders gewünscht.

Interessant war für mich der Einblick in ein wenn auch fiktives Schicksal eines jüdischen Kindes, das zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland mit vielen anderen Leidensgenossen und ohne die Eltern auf einen Kindertransport nach Großbritannien geschickt wurde. Gerade diese Passagen hätten großes Potential gehabt, beim Leser Empathie und Betroffenheit hervorzurufen - nun, bei mir war es jedenfalls kaum so, was ich sehr schade fand. Die Konflikte, die zwischen den einzelnen Familienmitgliedern schwelen, wurden zwar umrissen und skizziert, die Hintergründe jedoch oftmals nur angedeutet. Und auch wenn durch die einsetzenden Erinnerungen Irmas an ihre Jugend einiges in Bewegung kam - am Ende blieben für mich doch noch Fragen offen, was ich bedauerlich fand.

Insgesamt hat der Roman für mich nicht sein komplettes Potential ausgeschöpft, so dass die Lektüre dank des eingängigen, wenn auch oft recht einfachen Schreibstils zwar flott vonstatten ging, in der Summe aber meine Erwartungen nicht wirklich erfüllt hat.


© Parden


 
Zuletzt bearbeitet: