Rezension Rezension (3/5*) zu Das Flüstern der Bäume: Roman von Michael Christie.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Man darf nicht alles hinterfragen

Der Roman ist bei Penguin in einer optisch sehr schönen Gestaltung aufgelegt worden: Die verwunschene Landschaft auf dem Cover, der dicke Querschnitt eines alten Baumes mit Jahresringen auf einer der ersten Doppelseiten – sehr ansprechend. Einige dieser Jahresringe sind mit Jahreszahlen markiert, nach denen sich die Kapitel im Buch richten. Man bewegt sich zunächst von 2038 ausgehend in die Vergangenheit bis 1908 und dann wieder zurück in Etappen bis ins Jahr 2038. Eine Erzähltechnik, die neugierig macht.

Über diesen Zeitraum von 130 Jahren wird die Geschichte der Familie Greenwood erzählt. Der Roman setzt in der Zukunft ein: Jacinda (genannt Jake) Greenwood ist Waldführerin auf einer weitgehend naturbelassenen Insel, auf der sich die allerletzten Urwälder Kanadas befinden. Die Insel heißt Greenwood-Island, was Jake für eine zufällige Namensgleichheit hält. Reiche Pilger kommen dorthin in eine Art Ferienressort, um Sauerstoff zu tanken, zu entspannen und zu sich selbst zu finden. Es ist eine dystopische Ausgangslage: Das so genannte Große Welken hat fast alle Wälder dahingerafft, die Böden ausgetrocknet und tödliche Staubwolken in Bewegung gesetzt. Jake muss sich ihrem Arbeitgeber, der Firma Holtcorp, beugen, sie muss für Privatführungen zur Verfügung stehen - auf Wunsch sind sogar sexuelle Handlungen für Besucher inklusive. Jake hat keine Familie und liebt diese Insel über alles. Sie ist beunruhigt, als sie erste Anzeichen für eine Baumkrankheit feststellt. Dieses Setting ist sehr bedrückend und realistisch geschildert angesichts der derzeitigen Klimaveränderungen an den Wäldern weltweit.

Eines Tages kommt Jakes Ex-Freund Silas auf die Insel und übergibt ihr ein rätselhaftes Tagebuch, das ihrer Großmutter Willow Greenwood gehört haben soll. Silas sieht darin den Beweis, dass Jake eine prominente Abstammung hat, die sie dazu berechtigt, hohe Erbansprüche geltend zu machen. Bei deren Durchsetzung will Silas die junge Frau als Anwalt unterstützen. Jake nimmt das Buch an sich und bittet um Bedenkzeit.

Nun entrollt sich Jahresring für Jahresring die weitere Vergangenheit von Jacindas Familie. In den nächsten Kapiteln lernt man alle Figuren kennen, die mit der Tagebuchschreiberin in Verbindung stehen. Das zweite Kapitel im Jahr 2008 ist Jakes Vater Liam gewidmet, der als Tischler vom Gerüst stürzt und mit dem Tod kämpft. Viele Erinnerungen stürzen auf ihn ein. Er hat ein wechselhaftes Leben hinter sich. Bei seiner Mutter, der radikalen Umwelt-Aktivistin Willow, hat er eine unglückliche Kindheit verlebt. Zusammen reisten sie jahrelang im VW-Bus durchs Land, um militant gegen die Waldzerstörung zu kämpfen. Seine große Liebe zur Musikerin Meena war zwar nicht von Bestand, aus dieser Beziehung ging aber eine Tochter hervor…

Im Jahr 1974 wird Willow von ihrem Vater Harris Greenwood gebeten, dessen Bruder Everett aus dem Gefängnis abzuholen, in dem jener 38 Jahre lang einsaß. Willow hat keine Erinnerung an den Onkel, erinnert sich nur daran, vom Vater fürs Briefeschreiben ins Gefängnis bezahlt worden zu sein. Lange bleibt im Dunklen, für welche Verbrechen Everett so hart bestraft wurde. Das nächste Kapitel geht aber genau diese 38 Jahre ins Jahr 1934 zurück und stellt eben diesen jungen Everett ins Zentrum der Handlung…

Bereits mit den Schilderungen dieser vier Generationen hat der Autor den Grundstein für eine spannende Familiengeschichte gelegt. Allen Familienmitgliedern eigen ist ihre enge Beziehung zum Wald, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Motiven heraus. Sie alle haben verschiedene Charaktere und Schicksale. Michael Christie hat viel Fantasie. In der Familie Greenwood gibt es nichts, was es nicht gibt. Zahlreiche Konflikte, Missverständnisse, Verwechslungen und Todesfälle säumen den Roman. Es wird ein großes Repertoire familiärer Befindlichkeiten ausgespielt. Allen Protagonisten scheint ein lang anhaltendes Lebens- und Liebesglück verwehrt. Räumliche Konstante ist die eingangs erwähnte Insel Greenwood-Island, die für alle Generationen eine besondere Bedeutung besitzt und Schauplatz manch tragischer Ereignisse ist.

Das Buch ist schwungvoll geschrieben. Die Handlung entwickelt sich rasant, nimmt Wendungen, die man nicht vorhersehen kann. Es gibt Gute sowie Böse und Mächtige, die ihnen das Leben schwer machen. Es wird ein Baby geboren und versteckt. Was folgt ist eine rasante Flucht, die sich zwar kurzweilig liest, es aber an Plausibilität und Realismus fehlen lässt. Je mehr Fahrt das Geschehen aufnimmt, umso mehr gerät es zur Farce. Die Verwicklungen sind teilweise kurios und Vater Zufall hat allzu oft seine unglaubwürdigen Hände im Spiel. Anfangs genoss ich noch die eingestreuten Motive aus der Märchenwelt, mit der Zeit wurde mir das Konstruierte, Skurrile und Irreale zuviel. Dasselbe gilt für die Charaktere, die sich entweder in ihren vorgezeichneten Schablonen bewegen oder einem plötzlichen, nicht nachvollziehbaren Sinneswandel unterliegen.

Lässt man sich davon nicht stören, ist der Roman gewiss ein kurzweiliger Pageturner. Der Schreibstil ist ansprechend. Der Autor kann metaphernreich und gekonnt formulieren, man spürt seine Liebe zur Natur und seine Menschenkenntnis. Sätze wie diese haben mir gefallen:
• „Es ist wohlbekannt, dass die Erinnerungen junger Menschen verlässlich wie ein Regenbogen sind.“ (S. 255)
• „Vor allem für die vertrauensselige Art und Weise, wie sie sich mit ihren ausladenden Armen der Welt präsentieren, bemitleidet Harris die Bäume. Gold und Öl sind immerhin gescheit genug, sich zu verstecken.“ (S. 340)
• „Astreines Holz gefällt den Menschen am besten, weil sie sehen müssen, wie die Zeit darin gesammelt ist. Jahr um Jahr zusammengepresst. Ordentlich und sauber. Frei von Hindernissen und Makeln. So wie es unser Leben niemals ist.“ (S. 491)

„Das Flüstern der Bäume“ befriedigt keine hohen literarischen Erwartungen. Wie es auf dem Klappentext heißt ist der Roman „großes Kino: farbenprächtig, mitreißend, bewegend.“ Daneben hat er eine wichtige Kernaussage: Der Wald ist die Lebensgrundlage der Menschheit, er gehört unbedingt geschützt und seine Vernichtung muss weltweit gestoppt werden. Wenn man diese Aussage am Ende des Romans verinnerlicht hat, ist etwas Wichtiges erreicht.

Ich bin sicher, dass viele Menschen Freude an diesem Unterhaltungsroman haben werden. Meine war ab Seite 200 leider aus den genannten Gründen getrübt, weshalb ich nur eine verhaltene Lese-Empfehlung aussprechen möchte.