Rezension (3/5*) zu Aufstieg in den Abgrund von Holger Haase

Emswashed

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9. Mai 2020
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Carola Nehers kurzes Leben zwischen den Kriegen.

Carola Neher, geboren im November 1900 in München, war eine gefeierte Schauspielerin und vielleicht Deutschland erstes It-Girl. Ihre Ehe mit dem berühmten Schriftsteller Klabund, Alfred Henschke, währte nur 3 Jahre. Er starb 1928 an Tuberkulose. Überzeugt davon, dass es Alfreds Wunsch war, arbeitete Carola weiter an ihrer Karriere und mit Bertold Brechts Stücken, kam sie nicht nur diesem Ansinnen nach, sondern wurde anscheinend auch der Wunsch in ihr geweckt, dem einfachen Volk wieder ein wenig näher zu kommen.
Die politischen Umbrüche der 1930er Jahre, der zunehmende Unmut in der Arbeiterklasse, Versammlungen der opponierenden Bewegungen, trieben auch Carola Neher in den Dunstkreis der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands). Sie lernte Anatol Becker kennen und heiratete ihn 1932. Mit ihm zusammen emigrierte sie 1934 in die Sowjetunion. Becker war auch der Vater ihres Sohnes Georg. Deutschland entzog ihr daraufhin die deutsche Staatsbürgerschaft und das Ehepaar geriet auch im vermeintlich kommunistischen Paradies in politische Schwierigkeiten.

Die Romanbiografie "Aufstieg in den Abgrund" setzt am 20. Dezember 1939 im Zentralgefängnis von Wladimir ein. Carola Neher sitzt hier ein, wird aber an diesem Tag nach Moskau in das Butyrka überführt. Dort trifft sie in ihrer Zelle auf alte Bekannte aus Deutschland und gemeinsam überlegen sie, ob sie eine Chance auf Ausweisung aus der Sowjetunion im Gefangenenaustauschprogramm zwischen Stalin und Hitler haben. Für Carola beginnt ein Verhörmarathon mit dem NKWD Offizier (Innenministerium) Kusnezow, in dem wir alles über Carolas Leben erfahren.

Diese Rückblenden auf Carolas Leben sind detailreich, aber gleichzeitig losgelöst vom Dialog mit dem NKWD-Offizier. Alle Stationen Nehers, Engagements, Bekanntschaften mit Berühmtheiten, Beschreibungen von Kleidungstücken, Kurzfassungen der Theaterstücke, sprich, sämtliche belegten biografischen Daten finden sich in beeindruckender Vollständigkeit hier wieder. Was dem Buch fehlt, ist der erzählerische Zusammenhang zwischen den Ereignissen in der Haft und der Erzählung Carolas.
Hier und da blitzen ein paar Anhaltspunkte hervor, was Carola dazu veranlasst hat, die Ehe mit Klabund einzugehen, Anatol zu heiraten, oder in die Sowjetunion zu gehen, aber es bleiben reine Spekulationen, die, so völlig losgelöst von den Fakten, im Raum stehen bleiben und wie aus Wikipedia "abgeschrieben" erscheinen. Dabei hätte die politische und/oder menschliche Seite dieser Entscheidungen einen deutlichen Mehrwert verdient gehabt. Die Einführung weniger fiktionaler Figuren haben ihr Potential nicht ausspielen können und so bleibt ein merkwürdig emotionloser, trockener Bericht über eine deutsche Schauspielerin, die zwischen die Mühlen der Mächte geriet und dafür mit ihrem Leben bezahlte. Es war eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera, auf die Carola letztendlich doch keinen Einfluss hatte. Ein Schicksal, das in diesen Zeiten viele teilten und an dem ein Herr Brecht oder Hohenzollern Thronfolger Wilhelm auch nichts änderten.

Ich hätte mir eine gefühlvollere Darstellung dieses kurzen Lebens gewünscht, nicht nur angesichts der Verhältnisse in den sowjetischen Gefängnissen, sondern auch den atemraubenden Zeiten zwischen den beiden Weltkriegen geschuldet.

 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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Brandenburg
Was wäre dem hinzuzufügen ausser, dass manche Menschen einfach idiotische Entscheidungen treffen (in die Sowjetunion zu gehen).
Tolle Rezi. Wir hätten die Probeleser sein sollen, dann wäre der Roman zu retten gewesen. Es ist nie gut, Freunde probelesen zu lassen, sie trauen sich keinen Einspruch.