Rezension (3/5*) zu Auf See: Roman von Theresia Enzensberger

alasca

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13. Juni 2022
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49
Apokalypse, na und?

Die siebzehnjährige Yada lebt isoliert auf einer künstlichen Insel vor der deutschen Ostseeküste. Die Enklave Vineta wurde von ihrem Vater als letzte Zuflucht vor dem Chaos gegründet, dem die restliche Welt angeblich anheim gefallen ist. Yadas Mutter ist vor langer Zeit gestorben und hat ihr eine labile Psyche vererbt, die mit Medikamenten ständig stabilisiert werden muss. Eines Morgens wacht Yada auf und stellt verschiedene blutige Wunden an ihrem Körper fest, an deren Entstehung sie keine Erinnerung hat. Dass das Narrativ, mit dem Yada aufgewachsen ist, nicht stimmen kann, ist schon auf den ersten 30 Seiten offensichtlich.

Die Situation an Land erleben wir in einem zweiten Erzählstrang. Helena - Performance-Künstlerin, Aktivistin und Orakel wider Willen, hat zu Studienzwecken eine Sekte gegründet, die gerade aus dem Ruder läuft. Sie lebt in einem anarchischen Berlin, in dem die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergeht als zu unserer Zeit. Extrem Reiche stehen Menschen gegenüber, die in ihrem Auto leben müssen. Dennoch funktioniert die Gesellschaft irgendwie.

Helena führt ein Archiv, das so etwas wie den dritten Erzählstrang des Romans darstellt. Darin sammelt sie Storys von missglückten Utopien und Betrügern, die mittels Lüge und Falschinformation die Träume und Ängste der Menschen ausnutzen. Darunter ein paar faszinierende Fälle, historisch belegt und dennoch unglaublich.

Die Story mutiert ziemlich schnell vom dystopischen Gaslighting-Thriller zu … ja was? Einem Coming-of-Age-Roman? Enzensberger verweigert ihrer Dystopie den typischen katastrophischen Topos. Alles, was zunächst dramatisch wirkt, relativiert sich bald. Wie die drei Stränge zusammenhängen, kann man sich recht schnell denken. Das dramatischste Ereignis des Anfangs erfährt weder Erklärung noch Auflösung, was mich ziemlich geärgert hat – wenn Tschechows Gewehr schon nicht abgefeuert wird, möchte ich zumindest dabei sein, wenn die Patronen rausgenommen werden. Nichts eskaliert, es gibt keine Schrecknisse, keine Katharsis, die Handlung mündet in ein vages Happy End. Die Apokalypse hat stattgefunden – na und? Alles halb so wild.

Vielleicht ist es das, was der Roman vermitteln soll – ganz pragmatisch und ohne jede Ideologie: „Hier geht überhaupt nichts unter. Seit Jahrhunderten fantasieren irgendwelche Spinner über den Weltuntergang, aber wir sind alle noch hier, und das bleibt auch so“, lässt die Autorin Helena sagen, im post-apokalyptischen Setting einer Zeltstadt im Berliner Tiergarten, in der obdachlose Menschen zusammenleben wie in einer Kleingartenanlage. Hommage an die Resilienz oder naiver Optimismus? Oder schlicht die einzig mögliche Haltung für eine Millennial wie Enzensberger, mit der Welt, wie sie ist, klarzukommen - ohne vom Hochhaus zu springen oder Amok in der Seniorenresidenz zu laufen?

Ich fand „Auf See“ gut zu lesen, sprachlich souverän, unterhaltsam und durchaus originell, aber insgesamt seltsam unbefriedigend. Dennoch beschäftigt mich der Roman. Ich schwanke zwischen Warnung und Empfehlung.


 

RuLeka

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30. Januar 2018
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66
Bei mir kam Deine Rezension als Warnung an. Und ich bin froh, dass ich hier bei vorablesen kein Glück hatte.
Denn ich habe nie nach dem Aufstehen so tolle Gedanken, die sich lohnen, aufgeschrieben zu werden.
Das dramatischste Ereignis des Anfangs erfährt weder Erklärung noch Auflösung, was mich ziemlich geärgert hat – wenn Tschechows Gewehr schon nicht abgefeuert wird, möchte ich zumindest dabei sein, wenn die Patronen rausgenommen werden.
Wenn solche Sätze dabei herauskommen, lohnt sich das Rennen an den Rechner.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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49
Ja, eine (gewohnt) starke Rezension. Da lohnt sich das mehrfache Umschreiben :p - Wobei wir mit der ersten Version wahrscheinlich auch sehr glücklich gewesen wären.
Ich wusste schon beim Klappentext, dass ich das Buch nicht brauche. Danke für die Bestätigung!
 
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GAIA

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27. Dezember 2021
2.229
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Thüringen
Ich wusste schon beim Klappentext, dass ich das Buch nicht brauche. Danke für die Bestätigung!
Haha, ich hatte auch ganz gespannt auf die Freigabe der Leseprobe gewartet und nach deren Lektüre mich dann doch gegen eine Bewerbung entschieden. Sind wir mal noch davongekommen. :p

Kluges Hexle! :p Ich muss leider erst durch Schaden klug werden...:sad
Und hattest du nicht sogar deine mühsam gesammelten Punkte bei VL dafür geopfert? Oder verwechsel‘ ich das grad? :think
Auf jeden Fall eine aufschlussreiche Rezi!
 

alasca

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13. Juni 2022
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Ich habe heute bei vorablesen Punkte eingelöst, und zwar für dieses Buch:

Buchinformationen und Rezensionen zu Anleitung ein anderer zu werden: Roman von Édouard Louis
Kaufen >

Hab sehr geschwankt, weil der Aramburu hätte mich auch interessiert. Ein über 800-Seiten-Schinken...
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich habe heute bei vorablesen Punkte eingelöst, und zwar für dieses Buch:

Buchinformationen und Rezensionen zu Anleitung ein anderer zu werden: Roman von Édouard Louis
Kaufen >

Hab sehr geschwankt, weil der Aramburu hätte mich auch interessiert. Ein über 800-Seiten-Ich überlege auch noch, ob ich meine Punkte einsetzen soll. Allerdings eher für den Spanier. Doch die 800 Seiten schrecken mich noch. Vielleicht lass ich das Los entscheiden.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ja, RuLeka, 800 Seiten sind ein Brett. Andererseits: wer Aramburu mag... Man bekommt was fürs Geld...- äh für die Punkte...

Habt ihr schon etwas von Eduard Louis gelesen?
 
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RuLeka

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30. Januar 2018
6.408
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Ja, RuLeka, 800 Seiten sind ein Brett. Andererseits: wer Aramburu mag... Man bekommt was fürs Geld...- äh für die Punkte...

Habt ihr schon etwas von Eduard Louis gelesen?
Ja, hier gäbe es viel Lesestoff für die Punkte und von „ Patria„ war ich begeistert.


Buchinformationen und Rezensionen zu Das Ende von Eddy: Roman von Édouard Louis
Kaufen >
war mal Thema in meinem Lesekreis und

kenne ich ebenfalls. Beide sehr gut.
 

alasca

Bekanntes Mitglied
13. Juni 2022
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Ja, RuLeka, 800 Seiten sind ein Brett. Andererseits: wer Aramburu mag... Man bekommt was fürs Geld...- äh für die Punkte...
Ich mochte "Patria" sehr. Aber ob er sowas Tolles nochmal zustande kriegt und ob vor lauter Quantität nicht womöglich die Qualität leidet ... man weiß es nicht ...
Habt ihr schon etwas von Eduard Louis gelesen?
Ja, "Das Ende von Eddy". Fand ich super. Und auf meinem SUB liegt noch