Rezension (2/5*) zu Was dir bleibt: Roman von Jocelyne Saucier

GAIA

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27. Dezember 2021
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49
Thüringen
Auf zu vielen Gleisen unterwegs

Der Roman der von mir sehr geschätzten Autorin Jocelyn Saucier verpackt vier Erzählschichten in einem Buch. Laut Klappentext geht es um Gladys, eine 76Jährige, die ihre psychisch kranke Tochter zuhause allein zurücklässt und sich auf eine wirre Zugfahrt durch den Nord-Osten Kanadas aufmacht. Nach und nach soll aufgeklärt werden, was es mit der Zugirrfahrt der älteren Dame auf sich hat. Das ist aber nur ein Teil dieses Buches. Die größere Klammer entsteht dadurch, dass ein Ich-Erzähler berichtet, er sei mit dem Verschwinden der älteren Dame in Kontakt gekommen (wie, wird zunächst nicht erklärt) und gehe nun schon seit mehr als zwei Jahren dem Bedürfnis nach, die Geschichte von Gladys aufzuschreiben bzw. zu recherchieren. Er sei Lehrer und Eisenbahnnarr, daher kein richtiger Autor. Zu diesem Erzähler später mehr. Um diese Klammer des "Wer erzählt hier eigentlich wie und warum" schließt sich noch die Klammer, dass unser Ich-Erzähler gegen Ende des Romans mit seiner eigenen Geschichte ins Zentrum rückt und Gladys verdrängt. Und ganz tief im inneren der gesamten Romangeschichte steckt als zentrales Thema das Reisen mit der Eisenbahn im nur dünn besiedelten Nord-Osten Kanadas.

Für mich machte dieses letzte, zentrale Thema letztlich und eigentlich auch unerwartet den einzigen Reiz der Lektüre aus. Es ist wirklich interessant, was man aus diesem Buch über die Nutzung der Zugstrecken in dieser Region mit (fast) unendlichen Weiten alles erfährt. Man erfährt, dass Züge regelmäßig Verspätungen von einem Tag haben können, da der Personenverkehr dem Güterverkehr nachgestellt wird. Man erfährt, dass es früher "school trains" gab, in denen ein Lehrer mit seiner Familie durch Kanada gefahren wurde, um immer für zwei Wochen am Stück auf einem Abstellgleis zu parken und die Kinder der abgelegensten Regionen zu unterrichten. Wir erfahren, dass ein fast freundschaftlich-familiäres Verhältnis zwischen Zugchefs und regelmäßigen Fahrgästen besteht, dass auch mal auf freier Strecke angehalten wird, um Kanu-Fahrer mitzunehmen. Hm, jetzt habe ich bereits die interessantesten Informationen ausgeplaudert. Lohnt sich also darüber hinaus noch eine Lektüre?

Meines Erachtens nicht zwingend. Denn der Ich-Erzähler geht einfach nur unglaublich auf die Nerven mit seinen ständigen Erklärungen, warum er denn nun wieder einmal etwas nicht gut erzählen kann, warum er nicht zum Punkt kommt und sich immerzu entschuldigen muss. "Sollte meine Erzählung eines Tages Leserinnen und Leser finden, so bitte ich um Vergebung für die Unordnung. Obwohl ich erst ganz am Anfang stehe, merke ich jetzt schon, wie mir die Fäden entgleiten." Soll das eine Warnung an uns Leser:innen sein, dass auch Jocelyn Saucier so ihre Probleme mit ihrem Stoff hatte? Nach Abschluss der Lektüre glaube ich das tatsächlich. Denn sie bekommt ihren Stoff nicht unter eine Decke. Die Geschichte um Gladys wird zur Nebensache, diese Figur ist die, die am wenigsten Form bekommt in diesem Roman. Spätestens auf Seite 196 endet deren Geschichte, verpufft ins Nirwana und wirkt auch nicht nachhaltig nach. Natürlich war es ihre letzte Zugreise, das wird schon nach den ersten Seiten klar. Dann folgen noch 60 Seiten Palaver des Ich-Erzählers und er berichtet uns ausführlichst, wie es mit ihm nach dem Ende der Zugreise von Gladys weitergegangen ist. Dazu hatte ich dann gar keinen Bezug mehr und fühlte mich neuerlich von ihm genervt. So schreibt er zum Ende hin: "Bernie fragt mich häufig, wie weit ich bin. Ich antworte, es würden immer mehr Seiten, aber ein Ende sei nicht in Sicht." AMEN.

Meines Erachtens wurde die Autorin hier von ihren eigenen Ideen überrollt, hat vier Geschichten in eine gepackt und ist dann nicht mehr damit zurecht gekommen. Rund wirkt das Endergebnis für mich leider dadurch gar nicht. Allein die Informationen zum Eisenbahngewerbe in Kanada war nachhaltig. Allerdings habe ich die Vermutung, dass man diese Infos durchaus auch z.B. aus einer ARTE-Dokumentation hätte ziehen können. Dabei hätte der Mehrwert in zusätzlichen schönen Filmimpressionen gelegen.
Leider kann ich eine Lektüre von "Was dir bleibt" nicht ohne weiteres empfehlen. Wenn man einen selbstunsicheren Erzähler, der ständig seinen Fortschritt kommentieren muss, ertragen kann, dann könnte es vielleicht eine kurzweilige Lektüre werden. Ansonsten gilt eher: Finger weg.

2,5/5 Sterne

 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Man erfährt, dass es noch schlimmere Verhältnisse als in Deutschland gibt! Das ist doch auch was :rofl
Damit hatte ich tatsächlich nicht gerechnet. Die Leute schauen mitunter gleich nach Übernachtungsmöglichkeiten in Hotels, wenn sie einen Zugwechsel in ihrer Reise haben, weil es immer (sehr wahrscheinlich) sein kann, dass man den Anschlusszug um sieben Stunden verpasst hat und der nächste erst am nächsten Tag fährt... Eine wichtige Erkenntnis für alle, die eine wunderbare Zugreise durch die Weiten Kanadas planen. ;)
 

otegami

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17. Dezember 2021
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........ weil es immer (sehr wahrscheinlich) sein kann, dass man den Anschlusszug um sieben Stunden verpasst hat und der nächste erst am nächsten Tag fährt...
Auweia, na da lobe ich mir doch den faszinierend pünktlichen Zugverkehr in Japan: auf die Minute genau (und das bei dem dichten Schienennetz)! Fallllllls es wirklich mal eine Verspätung von 1 oder höchstens 2 Minuten (!!!!) gibt, entschuldigt sich das Personal beim Ausstieg x mal mit Verbeugungen.
(Stellt Euch das mal in Deutschland vor! :rofl Das Personal käme ja vor lauter Verbeugungen zu nichts mehr anderem! :cool: )

Ich hatte 'Niemals ohne sie' von Jocelyne Saucier als Hörbuch genossen und hatte eine Weile mit dem von Dir rezensierten Buch geliebäugelt, bin aber jetzt heilfroh, dass ich die Finger davon gelassen habe! ;)
 

Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda

GAIA

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Nur so am Rand: Kennt ihr den DB-Verspätungsschal?
Stell dir den mal in der kanadischen Variante vor. Dort wär‘ er sogar ungemein nützlich mit der Länge, denn eins ist klar: Dort ist es kalt und man könnte sich im Zug damit einwickeln!

Nachtrag: Mir fällt gerad ein, dass im Buch erwähnt wird, dass man im Norden Kanadas keine Schals trägt, da man ja abgehärtet ist. So erkenne man wohl Touristen dort.