Rezension (2/5*) zu Unsere verschwundenen Herzen: Roman von Celeste Ng

alasca

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13. Juni 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Unsre verschwundenen Herzen von Celeste Ng
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Dystopisches Märchen mit poetischen Längen

Eine Dystopie in nicht allzu ferner Zukunft, die USA in der Krise - man sucht Schuldige und findet sie: asiatisch-stämmige Amerikaner. Ein System von Misstrauen und Unterdrückung wird aufgebaut, legitimiert durch PACT – ein Gesetz gegen unamerikanisches Gedankengut und Verhalten. Infolge tritt die mündliche Überlieferung an die Stelle der schriftlichen – ein zivilisatorischer Rückschritt, typisch für einen Überwachungsstaat.

Teil 1 des Romans wird aus der Sicht von Bird erzählt, einem 13jährigen Jungen, Sohn eines WASP-Vaters und einer chinesisch-stämmigen Mutter. Diese hat die Familie vor drei Jahren verlassen – und seitdem will Birds Vater sie nicht einmal mehr erwähnen. Margaret, so vermutet man bald, ist in den Untergrund gegangen, um gegen PACT zu opponieren – vor allem gegen die Kindesentführungen, die ideologisch abweichende Familien erleiden müssen. Das alles erfahren wir peu á peu durch kleine Erinnerungsfetzen, ausgelöst durch einen Brief der Mutter an Bird.

Im zweiten Teil des Buches, aus der Perspektive von Birds Mutter erzählt, erfahren wir den wahren Grund für Margarets Verschwinden. Welche Mutter würde ihr Kind verlassen, um einem politischen Kampf den Vorrang zu geben? Ein interessanter Konflikt wäre das – doch Ngs butterweiche Erklärung ließ mein Interesse an dem Roman auf den Nullpunkt sinken.

Seltsam auch, dass Ng sich entschieden hat, in ihrer Welt keinerlei Social Media existieren zu lassen. Das ist insofern schade, als dadurch eine Menge Komplexität und Gegenwartsbezug verloren gehen.

Den Abschluss im dritten Teil – die Erfüllung von Birds Heldenreise - fand ich völlig unglaubwürdig, unter den Möglichkeiten der Figuren, so wie sie angelegt sind, und schrecklich romantisch. Ein Ende in altrosa und taubenblau.

Was gefiel mir an dem Buch: Es beschwört die Macht der Worte und Geschichten – Bibliotheken als Orte des Widerstands – und die subversive Kraft von Kunst. Es zeigt die Wirksamkeit einfacher Erklärungen in Zeiten der Krise. Es thematisiert Kindesentzug und Zwangsassimilationen von Kindern als staatliches Machtmittel – bis heute praktiziert gegenüber den Native Americans, die im Roman allerdings keinerlei Erwähnung finden. Brisante, wichtige Themen.

Tatsächlich hat der Stoff des Romans großes Spannungspotential. Die Trump-Ära mit ihrer Hetze gegen die „China-Flu“ Corona hat ihre Spuren hinterlassen. Ng will aufrütteln, nur wählt sie für ihren Zweck die falschen Mittel. Allzu poetisch und weitschweifig kommt ihr Text daher; er kann bei mir keine Betroffenheit auslösen. Der Erzählton ist elegisch, fast märchenhaft. Die Handlung entwickelt sich behäbig und bekommt Längen durch Ketten von lyrischen Metaphern und Vergleichen. Nach dem ersten Drittel habe ich zeitweilig nur noch quergelesen. Keine Spur von dem scharfen Blick, mit dem Ng in ihren vorigen Romanen Familien im komplexen Umfeld der amerikanischen Gesellschaft analysiert hat. Stattdessen eine süßliche Rebellenfabel, inhaltlich und sprachlich phrasenhaft und/oder purer Kitsch. Pfirsichfarbene Sonnenaufgänge. „Gewisse Dinge müssen persönlich erledigt werden.“ „Es war einmal ein Junge, und seine Mutter liebte ihn sehr.“

Fazit: Gut gemeint. Aber nicht gut.


 

GAIA

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27. Dezember 2021
2.228
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Thüringen
Wirklich eine differenzierte Rezi! Ich habe mich gegen das Buch und die LR entschieden. Mal sehen, was die anderen Leser:innen dazu sagen werden. Danke für deine Einschätzung.
 
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alasca

Bekanntes Mitglied
13. Juni 2022
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Wirklich eine differenzierte Rezi! Ich habe mich gegen das Buch und die LR entschieden. Mal sehen, was die anderen Leser:innen dazu sagen werden. Danke für deine Einschätzung.
Es gibt auch viele positive Einschätzungen, die genau das loben, was mich genervt hat. Für einige ist es ein Lese-Highlight. o_O
 
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Reaktionen: GAIA und otegami