Rezension (2/5*) zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher

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29. März 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher
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Wen interessiert's?

Mit "Lügen über meine Mutter" hat Daniela Dröscher es auf die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft. Es handelt sich um die Verarbeitung der eigenen Familiengeschichte, in der alles sich um das Körpergewicht der Mutter drehte. Doch wen interessiert's?

Zugegeben, in unserer heutigen Gesellschaft kommt Schönheitsidealen eine große Bedeutung zu. Viele Mädchen und Frauen verfallen dem Schlankheitswahn und werden magersüchtig, oder sie helfen mit Schönheits-OPs nach, bis ihr Körper den geltenden Schönheitsidealen gerecht wird. Jungs und Männer hingegen betreiben übermäßig FItness, um ihren Körper zu trimmen. Jede Zeit hat ihre spezifischen Schönheitsideale, also Vorstellungen darüber, was in einer gegebenen Kultur zu einer gegebenen Zeit als schön gilt. Das Schönheitsideal, das Anfang der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufkam, steht im engen Zusammenhang mit dem Körpergewicht. Während dieses Ideal sich auch im Zuge der Globalisierung einerseits immer weiter ausbreitet, gibt es zu Beginn des 21. Jahrhunderts gerade in den USA und Europa so viele übergewichtige Personen wie noch nie zuvor. Insofern kann man dem Roman mit dem Fokus auf das Schicksal einer "Dicken" durchaus eine gewisse Aktualität zusprechen. Doch worum geht es genau?

Die 6jährige Ela wächst Mitte der 80er Jahre in einem kleinen in Rheinland Pfalz gelegenen Dorf im Hause ihrer Großeltern väterlicherseits auf: Dort lebt sie gemeinsam mit ihren Eltern. Während der Vater in einem Ingenieursbüro arbeitet, chronisch unzufrieden ist und unter Minderwertigkeitskomplexen leidet, ist die Mutter als Fremdsprachenkorrespondentin tätig und motiviert, sich weiter in der Karriereleiter nach oben zu arbeiten. Allerdings gibt es ein penetrant wiederkehrendes Thema innerhalb der Familie: das Gewicht der Mutter. Vater hakt permanent darauf herum und treibt seine Frau damit von einer Diät zur nächsten. Erfolgen folgen bald Rückschläge, die sich in einer weiteren Gewichtszunahme niederschlagen. Begünstigt wird dies zudem durch Belastungen und Sorgen der Mutter: wie für Geschlechter- und Rollenzuweisungen in den 80er Jahren üblich, kümmert sie sich um Kind, Pflegekind und die pflegebedürftige Großmutter Elas. Als sie mit dem zweiten Kind schwanger wird, ist sie gezwungen, ihren Beruf aufzugeben. Die Situation spitzt sich zu...

Anfangs habe ich das Buch noch mit einem gewissen Interesse gelesen. Die Unterdrückung der Mutter durch ihren Mann wird eindrücklich beschrieben. Mit ihrem Dicksein ist die Mutter ihrem Mann ein Dorn im Auge, sie verstößt gegen Schönheitsideale. Diese vom Vater ausgeübte Diktatur und Kontrolle des weiblichen Körpers wird ebenfalls gut ausgearbeitet und beinhaltet ein gehöriges Maß an Gesellschaftskritik. Im weiteren Verlauf verlor ich jedoch komplett das Interesse am Buch. Weder konnte die Autorin mich mit ihren schwarz weiß gezeichneten Bildern und Rollenzuschreibungen - hier der böse, unterdrückende Mann, da die sich aufopfernde Mutter - erreichen, geschweige denn eine Empörung bewirken. Ich ärgerte mich vielmehr über diese doch sehr simplen und einseitgen Charakterzeichnungen inklusive Schuldzuweisungen. Dazwischen, wie leider allzu oft, hin und her gerissen zwischen den Eltern die kleine Ela, die aus ihrer kindlichen Perspektive heraus versucht, zu begreifen. Aus ihrer Perspektive lesen wir die Geschichte. Ergänzt wird dies durch Einschübe der erwachsenen Ela, die oberlehrerhaft daherkommen und sachlich nicht immer korrekt sind. Statt einer Wut auf den Vater, der zunehmend alle Grenzen überschreitet und droht die Familie auch in den finanziellen Ruin zu treiben, entwickelte ich eher ein tiefes Unverständnis dafür, warum die Autorin uns Ihr Klagelied präsentiert. Denn für die 80er Jahre hätte die Thematik des Romans interessant sein können, heute jedoch nicht mehr, denke ich. Zudem wunderte ich mich auch darüber, dass dieses sehr einseitige Buch es tatsächlich auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hatte, aber nun gut, das ist widerum nicht der Autorin und ihrem Werk anzukreiden.

Zurück zum Werk selbst. Mir hätte das Buch wesentlich besser gefallen, wenn es beispielsweise stärker auf die normative Vorstellung und Dominanz von Schönheitsvorstellungen fokussiert hätte, mit den entsprechenden Folgen für Personen, die diesen nicht genügen. Leider ist dies aber offenbar nicht die Intention der Autorin, die vielmehr eine familieninterne Abrechnung zu starten scheint. Und hier bin ich raus. Das interessiert nich überhaupt nicht und ich mag so etwas nicht lesen. Dann lieber ein couragierter Beitrag über unter vorgehaltener Hand formulierte Beleidigungen, wie den von Marius Müller-Westernhagen vor über 40 Jahren mit seinem Skandal-Song über Dicke. Darüber kann man sich dann wenigstens streiten.

Anmerken möchte ich auch noch, dass ich Kennzeichnungen der Teile in Verbindungen mit besonderen Ereignissen und bestimmten Vögeln des Jahres überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Was die angeführten Ereignisse betrifft, könnte man sich noch vorstellen, dass hier möglicherweise mit der Kritik an Gender- und Rollenzuschreibungen die Rückständigkeit Deutschlands im internationalen Maßstab angesprochen werden soll. Dies wird aber nirgens herausgearbeitet. Die Bedeutung der Vögel des Jahres erschloss sich mir nicht ansatzweise.

Insgesamt muss ich leider ein sehr ernüchterndes Fazit ziehen: Meiner Meinung nach war das nichts. Erstaunt nehme ich die vielen hohen Bewertungen zur Kenntnis. Möge die geneigte Leserschaft sich, wie immer, ein eigenes Bild machen.



 
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Wandablue

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18. September 2019
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Ganz deiner Meinung. Mir hätte es auch besser gefallen, wenn die Autorin auf mehr als Familieninterna abgestellt hätte.
 

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