Rezension Rezension (2/5*) zu Ich, Antoine: Roman von Julie Estève.

RuLeka

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30. Januar 2018
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Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Trostlos und abstoßend

Julie Esteves zweiter Roman spielt in einem kleinen Dorf auf Korsika. Die Handlung setzt Mitte der 1980er Jahre ein und zieht sich über einen Zeitraum von knapp 30 Jahren.
Zu Beginn ist die Hauptfigur Antoine schon tot; wir lesen von seiner trostlosen Beerdigung.
Danach ergreift Antoine selbst das Wort. Doch er spricht nicht den Leser an, sondern erzählt seine Lebensgeschichte einem alten Plastikstuhl. Man merkt sofort, Antoine ist anders. Er war nämlich der Dorfdepp. Von allen gehänselt, verspottet, aufs Übelste gequält. Auch in seiner Familie fand er kaum Unterstützung und noch weniger Verständnis und Liebe. Die Mutter starb bei seiner Geburt - wofür ihn Vater und Bruder verantwortlich machen. Er wächst zusammen mit seinen älteren Geschwistern Pierre und Tomasine auf. Der Vater ist ein jähzorniger und brutaler Säufer, der Bruder verübt Terror im Namen eines freien Korsika, zieht ansonsten wildernd durch die Wälder. Tomasine flüchtet aus dem tristen Elternhaus nach Paris, in der vergeblichen Hoffnung auf eine Karriere als Sängerin.
Einzig die Lehrerin Madame Madeleine kümmert sich eine Zeitlang um den zurückgebliebenen Jungen, doch mit ihrem Tod hat Antoine niemand mehr. Er bleibt der Außenseiter im Dorf, der lieber stundenlang in der Macchia herumstreift.
Dann verliebt er sich in Florence, die frühreife 16jährige Dorfschönheit. Und als diese eines Tages tot im Pinienwald aufgefunden wird, ist für alle schnell klar, wer der Täter ist. Antoine kommt für 15 Jahre ins Gefängnis und kehrt danach ins Dorf zurück, wo er weiter wie ein Aussätziger behandelt wird.
Nun, als alter Mann, erzählt er seine Geschichte und der Leser erfährt nach und nach, was damals wirklich geschehen ist. Dabei muss er genau aufpassen, denn Antoine mischt Erlebtes mit Erfundenem oder Geträumten, zieht falsche Schlussfolgerungen; nicht alles ist ganz überzeugend. Wobei für mich das Ende wieder gepasst hat ( auch wenn es konstruiert wirkt). Zeigt es doch, dass man auf vielfältige Art schuldig werden kann.
Die Autorin beschreibt hier die Gedankengänge und Erlebnisse eines geistig zurückgebliebenen Menschen und den grausamen und gnadenlosen Umgang mit ihm. Man muss Mitleid haben mit dieser Figur. Zu niederträchtig die Spielchen, die die Dorfjugend mit ihm treibt, zu widerlich die Beschimpfungen, denen er ausgesetzt ist. Wenn jemand mal ein freundliches Wort für ihn hat, missversteht das Antoine in seinem Überschwang völlig.
Trotz meinem Mitgefühl war mir Antoine nicht sympathisch. Er ist voller Rachegefühle (verständlich zwar ), ohne Empathie und sein Verhalten und seine Sprache sind derb und vulgär.
Hier setzt mein Hauptkritikpunkt an diesem Roman an. Die Sprache hat mich zusehends abgestoßen, ermüdet auch auf die Dauer. Das Buch hätte einen personalen oder besser noch auktorialen Erzähler gebraucht. Die grobe Sprache der Dialoge eingebettet in eine sprachlich gut erzählte Geschichte, so wäre die Authentizität noch immer gegeben und das sprachliche Können eines Autors hätte das trostlose Setting erträglich gemacht.
Wie unsere Leserunde gezeigt hat, polarisiert dieser Roman. Wer sich nicht an der vulgären Sprache und dem deprimierenden Personal stört, wird eine interessante Sozialstudie lesen. Ich aber habe mich durch dieses Buch gequält.
„ ... ein Roman voll bitterer Schönheit und ergreifender Menschlichkeit“ - so urteilt Le Monde über dieses Buch. Ich konnte keine Schönheit finden und noch weniger Menschlichkeit.



 

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