Rezension Rezension (2/5*) zu Die allertraurigste Geschichte von Ford Madox Ford.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die allertraurigste Geschichte von Ford Madox Ford
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Spiel mit der Wahrheit


Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich um einen Klassiker, der erstmalig 1915 unter dem Titel „The Good Soldier“ erschien, bald jedoch in „The saddest Story“ umgetauft wurde. Diogenes hat dieses Werk im November 2018 erneut übersetzt, in ockerfarbenes Leinen gebunden und im wunderschönen Schmuckschuber frisch aufgelegt. Ein wahrer Schatz für Buchliebhaber!

Vorangestellt ist „Ein Brief als Zueignung“ adressiert an Stella Ford (Ehefrau). Der Roman selbst ist in vier Teile geteilt. Julian Barnes hat ein Nachwort verfasst, das hilft, den gewonnenen Leseeindruck zu ergänzen und zu verstehen.

Bereits der erste Satz: „Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe“, hat eine Faszination. Man möchte weiter lesen und erfahren, was es mit dieser besonderen Geschichte wohl auf sich hat. Doch bereits auf der ersten Seite wird man auch verwirrt: „Meine Frau und ich kannten Hauptmann und Mrs Ashburnham so gut, wie man jemanden nur kennen kann, und doch wussten wir auch wieder gar nichts von ihnen.“ Diese Widersprüche (Ist der Erzähler Teil der Geschichte oder hat er sie wirklich nur gehört? Wie gut kennt er das Ehepaar A. tatsächlich?...) haben Methode, schnell wird klar, dass wir es mit einem höchst unzuverlässigen Erzähler zu tun haben. Diese ungewöhnliche Konzeption macht einen großen Reiz des Buches aus.Das muss man mögen, um Gefallen am Roman zu finden.

Worum geht es inhaltlich?
Der reiche Amerikaner John Dowell kommt alljährlich mit seiner (angeblich) herzkranken Frau Florence nach Bad Nauheim zur Kur. Seit 9 Jahren treffen sie dort regelmäßig auf das englische Ehepaar Edward und Leonora Ashburnham, mit dem sie die Sommer verbringen. Zunächst wird der Eindruck vermittelt, dass es sich bei den Ashburnhams um vortreffliche, tugendhafte Menschen handelt. Das relativiert sich schnell, da man schon auf den ersten Seiten darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass sowohl Florence als auch Edward nicht mehr am Leben sind und ihr Tod offensichtlich tragisch miteinander in Zusammenhang steht.

John Dowell berichtet über die Freundschaft der Paare und über vergangene Ereignisse, er hat aber keinen stringenten Erzählfluss. Vielmehr überlässt er sich seinen sprunghaften Erinnerungen. Manches hat er selbst erlebt, manches hat er tatsächlich nur gehört. Für den Leser ergibt sich auf diese Weise ein recht anspruchsvolles Puzzlespiel. Oftmals muss man feststellen, dass doch nichts so war, wie es zunächst schien. Der Erzähler bezieht zuweilen auch den Leser mit ein, erklärt seine Vorgehensweise und entschuldigt sich mitunter dafür.

Hauptmann Ashburnham ist wahrlich nicht der edle Charakter, als der er zunächst vorgestellt wurde. Nach und nach wird deutlich, dass er dauernd wechselnde Liebschaften unterhält, mit denen er seine Frau verletzt. Leonora erträgt das unter anderem deshalb, weil ihr als gläubiger Katholikin die Ehe als unauflöslich gilt. Ferner ist ihr Gatte ein Verschwender, den sie schon vor dem Ruin retten musste. Edward macht auch vor Florence nicht halt, beide haben über Jahre ein Verhältnis, das im Zusammenhang mit deren frühem Tod stehen muss…

Doch Florence ist kein Opfer. Sie ist gar nicht herzkrank, sondern benutzt die Krankheit unter anderem dazu, um sich von ihrem Mann pflegen zu lassen und keinen Sex mit ihm haben zu müssen. John ist der Stoiker, er ist die Tatenlosigkeit in Person, Dinge geschehen mit ihm, er scheint selbst keine Motivation zu haben. Er ist nur am Ertragen. Leonora wiederum ist eine Ränkeschmiedin, der die Wahrung des äußeren Anscheines enorm wichtig ist. Dafür geht sie fast über Leichen.

Die Beziehungen dieser vier Personen untereinander bilden den Kern der Geschichte. Dowell lässt sie für uns noch einmal Revue passieren. Es geht um Affären, Untreue, Heuchelei. Er suggeriert uns permanent Scheinwahrheiten, die sich nur teilweise auflösen. Erlittene Verletzungen werden aus meiner Sicht unrealistisch übertrieben, in die eigenen Gefühle wird sich tief hineinbegeben – man hat ja sonst nichts, um das man sich kümmern müsste. Das Leben dieser zwei wohlhabenden Ehepaare erscheint unglaublich banal. Am Rande tauchen auch Figuren aus der arbeitenden Klasse auf, deren Schicksal interessiert aber nicht. Es dreht sich alles um die Dowells und die Ashburnhams.
Für Personen, die in deren Machenschaften hinein gezogen werden und deren Leben sich dadurch drastisch verändert, hat man wenig Empathie. Nach und nach fügen sich die Puzzleteile ineinander und am Ende hat der Leser das gesamte Bild und weiß, was alles passiert ist und warum…

Meine Bewertung:
Vermutlich ist der Roman eine Gesellschaftsstudie, die klare Kritik an der Nutzlosigkeit der Reichen ihrer Zeit üben will. Ich fand das vorliegende Schreibkonzept des unzuverlässigen Erzählers spannend, wissentlich hatte ich bisher keine Erfahrungen damit. Mir hat auch die mitunter poetische Sprache sehr gut gefallen.

Leider konnte mich die Geschichte an sich nicht erreichen. Ich hatte keine Freude an den permanenten Widersprüchen, den Übertreibungen, an den Scheinwahrheiten, an den Irrwegen, auf die der Autor den Leser führt. Mich haben die Sprünge in der Erzählung überfordert, ich empfand das Lesen des Romans unendlich anstrengend, die Dekadenz und Ich-Bezogenheit der Figuren hat mich nahezu angewidert. Deshalb kann ich keine uneingeschränkte Leseempfehlung geben.

Viele in unserer Leserunde hatten Freude am Lesen. Deshalb möchte ich zu dem Resümee kommen: „Die allertraurigste Geschichte“ ist vielleicht ein gutes Buch – nur nicht für mich.



 
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