Als Stefan Hertmans sich zum Kauf eines alten Hauses in Gent entschließt, ahnt er nichts von den Geschichten, die sich hinter dessen Mauern abgespielt haben. Er macht sich auf die Suche nach den Spuren der früheren Bewohner und entdeckt die fesselnde Geschichte eines SS-Offiziers und dessen pazifistischer Frau. Angetrieben von einem tiefen Bedürfnis nach Verständnis, tastet sich Hertmans an diese Figuren heran und beleuchtet damit zugleich die Tragödie eines ganzen Landes.Kaufen
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Stefan Hertmans biografischer Roman „Der Aufgang“ versucht, dem Leben des flämischen Kollaborateurs Willem Verhulst auf die Spur zu kommen. Ausgelöst wird das Interesse an dieser doch wenig besonderen Figur durch die Tatsache, dass der Erzähler das Haus des SS-Schergen kaufte und selbst dann zwanzig Jahre darin lebte. Außerdem war der Sohn Willem Verhulsts der Professor des Erzählers. So weit, so gut, so interessant. Allerdings löst der Roman das Versprechen einer anregenden, aufschlussreichen Lektüre kaum ein.
Auf der einen Seite begleitet man den Erzähler immer wieder in Einzelkapiteln bei seiner Hausbesichtigung anlässlich seines Eigentumserwerbs – daher vermutlich der Titel des Romans „Der Aufgang“, denn der Weg durch die Räume führt von ganz unten nach ganz oben, auf der anderen Seite wird man mit Erinnerungen, Interviews, Tagebuch- und Briefauszügen, persönlichen Eindrücken, Gerichtsakten und Polizeiberichten konfrontiert, die allesamt dazu da sind, ein genaueres Bild des Kollaborateurs zu zeichnen. Eingestreut finden sich große Atmosphäre-Momente, die sich meist im Bereich der Hausbesichtigung und zu Beginn der Kapitel finden, diese sorgen sicherlich für eine gewisse Stimmung, sind aber so berechnend eingesetzt, dass sie nicht nur artifiziell wirken, sie richten quasi auch immer wieder den Scheinwerfer darauf, dass der Roman ja eigentlich literarischen Anspruch haben möchte, durch das Versinken in den collageartigen Faktendarstellungen sich aber einer gewissen Grundneutralität und Nüchternheit verpflichtet sieht und so die rechte Balance zwischen beidem (Literatur und Biographie) nicht wirklich findet. Fragmentarisches und collageartiges Erzählen sind ebenso wie Gattungshybridität ganz spannende literarische Möglichkeiten, gerade für einen Roman wie diesen, doch leider klappt es hier in der Umsetzung kaum. Dem Text gelingt es nicht, den Leser fortgesetzt für sein Thema zu interessieren. Statt die Möglichkeiten des Romans zu nutzen und auf fiktionaler Ebene eine nachvollziehbare Verbindung zwischen dem Haus, dem Erzähler und der Familie Verhulst zu erschaffen, verliert sich der Text in zwar offensichtlich gründlich recherchierten, aber wenig interessanten Passagen. Hinzu kommt, dass wenn ganz deutlich mal etwas dazu erfunden wird, es schon recht abstrus anmutet, ebenso wie die zahlreichen Linien, die Nähe und Verbindungslinien schaffen sollen, wo als solche keine tragfähigen existieren.
Ein Roman, auch ein biographischer, muss sich an seinen Figuren messen lassen. Hier wird auf erwartbare Weise auf Schwarz-Weiß-Zeichnung gesetzt. So erscheinen alle ideologisch mit Willem Verhulst verbundenen Figuren stereotyp eindimensional und auf eine krude Art lächerlich. Auch böse Figuren kann und muss man differenzierter und facettenreicher ausleuchten. Dem gegenüber steht seine religiöse Frau Mientje, die wiederum alles Gute repräsentiert – auch die moralisch erhabenen Figuren haben es verdient, dass man sich mit ihnen eingehender beschäftigt. Leider werden Beweggründe, Motive und Emotionen bei allen Figuren fast vollkommen unkommentiert gelassen, es ist kaum zu verstehen, wieso Willem Verhulst so unangefochten durchs Leben schreiten konnte.
Meine Leseerfahrung wird im Wesentlichen von großer Langeweile geprägt, es gab zu Beginn des zweiten Teils durchaus einige Kapitel in denen ein gewisser Schwung aufkam und die die Lektüre einigermaßen kurzweilig gestalten, dieses Hoch hielt aber nicht sehr lang an. Besonders der letzte Teil ist zäh und zieht sich, dem Roman geht da das bisschen Luft aus, dass zu dem Zeitpunkt noch vorhanden war.
Insgesamt kann ich den Roman aufgrund seines großen Langeweile-Potenzials nicht weiterempfehlen. Für mich liegt die Hauptproblematik in der mangelnden Ausrichtung, in dem Verlangen künstlich Verbindungen und Relevanz herzustellen, wo es keine gibt. Sicherlich liegt dem Text umfangreiche Recherchearbeit zugrunde, aber das allein schafft keine interessante Lektüre und rechtfertigt im Grunde auch keine Aufwertung des Urteils. Auch bin ich mir bewusst, dass der Roman ein ausgesprochen wichtiges Thema behandelt, welches gerade auch in Belgien von ungeheurer Bedeutung ist. Aber auch das macht den Roman nicht besser und nicht spannender. Nicht jeder Roman, der ein wichtiges Thema behandelt, ist ein lesbares und literarisches Meisterwerk. Und so ist es hier leider auch.
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