Rezension (2/5*) zu Blau mit ganz viel Glitzer von Maria Vöckler

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
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49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Zu einseitig...

Luis Vöckler ist drei Jahre alt, als er das erste Mal seinen größten Wunsch äußert: Er möchte ein Mädchen sein so wie sein Vorbild die Eiskönigin Elsa. Das ist nur eine Phase, denken seine Eltern Maria und Cai und lassen ihm zu Hause den Spaß am Verkleiden. Doch mit der Zeit merken sie, dass in ihrem kleinen Sohn tatsächlich ein Mädchen stecken könnte. Für die ganze Familie beginnt ein Auf und Ab der Gefühle. Maria Vöckler erzählt vom Leben mit ihrem trans* Kind Luisa. Sie geht offen mit dem Thema um, bezieht den Kindergarten mit ein. Und zunächst scheint alles gut zu laufen. Doch dann beschweren sich andere Eltern bei der Leitung des Kindergartens, die daraufhin das Jugendamt einschaltet. Der Vorwurf: Kindeswohlgefährdung. Maria Vöcklers ganz persönliche Geschichte schreibt die Journalistin Sara Schurmann auf. Sie hatte im Sommer 2019 für ein Interview nach Eltern von trans* Kindern gesucht. Die Recherche war nicht leicht, Maria Vöckler war aber schließlich bereit dazu, von ihren Erfahrungen zu erzählen. (Klappentext)

Puh, ich sitze hier und überlege, was ich über das Buch schreiben kann und darf, ohne mich zu sehr in die Nesseln zu setzen - aber ich möchte das Gelesene auch nicht unkommentiert lassen.

Nur für sich genommen ist die Erzählung einer Mutter über ihr Kind, das schon früh zu wissen scheint, dass sein Körper die falschen Geschlechtsmerkmale aufweist, sicher eine großartige Idee, um anderen Eltern in dieser Situation Mut zu machen. Denn auch wenn die die LGBTQ-Thematik allmählich gesellschaftlich-politisch selbstverständlicher wird, sind Vorurteile, Vorbehalte und Ressentiments gegenüber Nicht-Cis-Hetero-Personen leider durchaus noch an der Tagesordnung. Und als Mutter eines trans*Kindes spricht und handelt man ja noch nicht einmal für sich selbst, sondern eben für das Kind - und damit sind (Selbst-)Zweifel und Anfeindungen der eigenen Person oder gar der ganzen Familie durch andere inbegriffen, auch und gerade im Umgang mit Institutionen, die man nicht umgehen kann (Kindergarten, Schule).

Und um eins gleich klarzustellen: ich bin weder transphob noch homophob oder biphob veranlagt, sondern unbedingt dafür, dass jede:r so leben kann und soll wie er/sie/divers es mag. Ich begrüße es sehr, dass die Transsexualität 2018 endlich von der WHO als "Krankheit" gestrichen wurde, und ja, ich glaube auch daran, dass bereits Kinder merken können, dass sie mit dem falschen Geschlecht geboren wurden. Was also ist mein Problem?

Mein Problem ist, dass mir bekannt ist, wer sich hinter dem Pseudonym Maria Vöckler verbirgt - und ich kenne die Familie. Nicht gut genug, um sagen zu können, das stimmt so alles nicht. Aber eben doch gut genug, um Zweifel anmelden zu können, ob die Darstellung der Ereignisse einer Überprüfung von außen in allen Punkten standhalten würde. Und nein, ich stamme weder aus dem Umfeld des Kindergartens noch aus dem der Schule, die hier an den Pranger gestellt werden.

Dass sich hier eine Journalistin bereit erklärt hat, die Geschichte der Maria Vöckler aufzuzeichnen, ist rein formal nicht ungeschickt. Der Aufbau ist klug gewählt - chronologisch von den ersten möglichen Anzeichen einer Transsexualität über die Hürden mit dem Jugendamt bis zur Situation in der Gegenwart. Dabei gibt es in einfach gehaltenem Schreibstil eine Mischung aus alltäglichen Situationen, besonderen Ereignissen und den Schwierigkeiten, die der Familie begegnen, sowie der psychischen Belastung, die diese vor allem für die Eltern mit sich bringen. Das Buch ist damit auch für selten lesende Menschen gut geeignet.

Aber. Und hier kommt mein großes Aber. Von einer Journalistin würde ich mir wünschen, dass sie versucht objektiv zu berichten. Und dazu gehört eben nicht nur, vorhandene Unterlagen und Berichte zu sichten und ansonsten die Unterhaltungen mit der Mutter zu dokumentieren, sondern sich auch mit etwaigen Zweifeln ernsthafter auseinanderzusetzen. Im Vorfeld. Aber natürlich trifft solch ein Buch genau den heutigen Zeitgeist - vielleicht wären Zweifel da eher lästig?

Ich möchte niemandem Unrecht tun, beileibe nicht. Aber wenn eine Mutter - was hier im Buch ebenfalls kurz angerissen wird, ich verrate daher keine Geheimnisse - ihrem kleinen Kind kurz nacheinander selbst die verschiedensten Diagnosen und Verdachtsdiagnosen zukommen lässt wie z.B. Sprachentwicklungsstörung, selektiver Mutismus, Essstörung, Epilepsie, Autismus u.a.m., muss sie sich m.E. über eine zunehmende Irritation des Umfelds nicht wundern. Eine Anzeige wegen Kindeswohlgefährdung wie geschehen von Seiten des Kindergartens bei einem möglichen Münchhausen-Stellvertretersyndrom der Mutter erscheint da als Konsequenz vielleicht nicht ganz unlogisch - die Idee eines trans*Kindes war da wohl der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Und auch wenn das Verfahren beim Jugendamt letztendlich eingestellt wurde, konnte das die Restzweifel im Umfeld keineswegs ausräumen. Ich persönlich finde es ärgerlich, dass sämliche Reaktionen von außen wie z.B. diese Anzeige wegen einer möglichen Kindeswohlgefährdung hier im Buch als Folge von Unwissen, Intoleranz oder Transphobie des Umfeldes abgetan werden. Das sind Totschlagargumente, die einen anderen Blickwinkel nicht mehr zulassen und die Mutter ausschließlich als Opfer dastehen lassen. Aus Sicht der Mutter selbst verständlich. Aus Sicht der Journalistin in meinen Augen bedenklich und für mein Empfinden zu einseitig in der Darstellung.

Gerade auch der offensive Umgang der Mutter (TV-Dokumentation, Zeitungsartikel, Teilnahme an einer Talkshow, dieses Buch) mit der möglichen Transsexualität ihres Kindes kann m.E. durchaus zwiespältig gesehen werden. Öffentlichkeitsarbeit und Unterstützung anderer Eltern in einer vergleichbaren Situation sind die hier im Erfahrungsbericht vorgebrachten Argumente. Vor dem Hintergrund des vom Jugendamt als Möglichkeit ins Auge gefassten Münchhausen-Stellvertretersyndroms erhielte das Auftreten jedoch eine gänzlich andere Gewichtung - mehr Aufmerksamkeit kann man kaum bekommen. Womit ich hier ausdrücklich betone, nichts dergleichen behaupten zu wollen. Aber ich möchte eben darlegen, dass womöglich nicht alles so eindeutig ist, wie es hier im Buch erscheint.

Hätte ich das Buch ohne das Wissen um die Person der Mutter gelesen, hätte ich wohl 3,5 Sterne vergeben und aufgrund der wichtigen Thematik auf 4 Sterne aufgerundet. So aber werden es gerade noch 2 Sterne, denn ja, die Thematik an sich ist eben bedeutsam. Ich wünsche Luisa jedenfalls, dass sie sich tatsächlich als Luisa fühlt, und dass die Familie allmählich zur Ruhe kommt.


© Parden