Rezension Rezension (2/5*) zu Besetzte Gebiete: Roman von Arnon Grünberg

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Besetzte Gebiete: Roman von Arnon Grünberg
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Nach den ersten Kapiteln habe ich mir notiert:⁣

“Ich habe das Gefühl, das wird ein Highlight. Die Figurenkonstellation ist großartig, das kribbelt richtig beim Lesen, macht einfach Spaß. Der unzuverlässige Erzähler gibt dem Ganzen eine tragikomische Vielschichtigkeit, da weißt du nie, was dich erwartet – das ist manchmal fast schon absurd, aber es ist oft auch zum Haareraufen komisch und gleichzeitig bitter.”⁣

Oh, wie diese erste Begeisterung sich im Laufe des Lesens noch relativierte… Ich habe versucht, in meiner Rezension die Widersprüchlichkeit meiner Eindrücke darzustellen.⁣

Die Unverschämtheiten sind geradezu schmerzhaft, schrammen haarscharf vorbei am Untragbaren – oder brettern in vollem Tempo hinein. Die Dialoge sind spritzig geschrieben, das Lesen macht Freude, auch wenn du dich windest: mal vor Fremdschämen, mal vor Scham, dass du witzig findest, was die Grenzen des guten Geschmacks schon lange hinter sich gelassen hat.⁣

Der arme Kadoke scheint ein rechter Antiheld zu sein. Realitsfremd und eigenbrötlerisch versteckt er sich hinter seiner Rolle als Psychiater, um sich nicht auf das Leben und andere Menschen einlassen zu müssen. Doch das bewahrt ihn nicht vor katastrophalen Fehlern und Entscheidungen, bei denen du dir als Leser:in nur noch an den Kopf fassen kannst. Und so beginnt das Buch auch damit, dass er alles verliert: Ruf, Lizenz, Lebenssinn.⁣

Er entbrennt in plötzlich entdeckter Liebe zu seiner Großkusine Anat, einer Zionistin aus dem Westjordanland. Ohne groß zu zaudern (sehr ungewöhnlich für ihn) blendet Kadoke kurzerhand aus, dass er eigentlich Atheist und Antizionist ist, packt seinen alten Vater ein und zieht zu Anats Familie in die zionistische Siedlung. Flucht? Bestimmt. Sehnsucht nach einem Menschen, der ihn versteht und nicht verurteilt? Garantiert. Schlechte Idee? Mit Sicherheit.⁣

“Für einen Moment hat er das Gefühl, dass die Vision, wegen der er hergekommen ist, die aus der Not geborene Vision, die einzige vielleicht in seinem Leben, ausschließlich unerwartete und unerwünschte Nebenwirkungen hat; ansonsten ist sie eine Leere, ein Abgrund, um den er gleichwohl fortwährend kreist. Vor allem fühlt es sich an, als kontrolliere nicht mehr er sein Verlangen und seine Fantasie, sondern als kontrolliere die Fantasie ihn; hier auf diesem Hügel ist alles Einbildung, eine radikal außer Kontrolle geratene Einbildung, in die er sich mutwillig gestürzt hat.”⁣

Anat suhlt sich genüsslich in ihrem Opferstatus, giert scheinbar nur so danach, auf ihre Identität als Jüdin reduziert zu werden. Das erstreckt sich auf einen sexuellen Fetisch, der die Grenzen der politischen Korrektheit schlichtweg sprengt. Irgendwann liest sie sich nicht mehr wie ein echter Mensch, sie ist bloß noch eine Kunstfigur, wortgewordene Provokation, und passt damit zum Grundton des Buches.⁣

Aber zu diesem Zeitpunkt ist für Kadoke eh schon alles zu spät – und mich hatte der Roman da ohnehin bereits verloren, mich langweilte die ganze Provokation inzwischen.⁣

Wieviel darf ein Roman?⁣

Kadoke kann seinen Kurs nicht mehr korrigieren, denn er ist außerstande, andere Perspektiven als die eigene einzunehmen. Er ist Kadoke und alles ist Kadoke, die ganze Welt ist Kadoke. Es gibt für ihn nur seine persönliche Wahrheit, deswegen reagiert er fassungslos darauf, dass niemand ihn versteht. Gleichzeitig ist er eine wandelnde Leerstelle, die Erfüllung in anderer Leute Ansichten sucht. Da kommt wieder die “Liebe” ins Spiel, denn die würde Anat in seinen Augen zu seiner Verbündeten machen. Stattdessen führt diese Liebe dazu, dass er eine Erniedrigung nach der anderen über sich ergehen lassen muss – und da hatte ich irgendwann die Nase voll.⁣

Das ist alles zu viel, zu schrill, zu gewollt schockierend. Nachdem der Balanceakt für mich im ersten Teil des Romans noch funktionierte, stürzte nach meinem Empfinden im zweiten Teil alles in sich zusammen.⁣

“Sie setzt ihm die Mütze auf, küsst ihn, wieder so gierig, ihre Wut macht sie schöner und geiler, fordernder und ruchloser. Kadoke schüttelt den Kopf. »Nein«, sagt er, »du musst ins Gas.« »Aber, Obersturmbannführer«, wispert sie, »ich werde dir fehlen. Wen willst du denn f***en, wenn nur noch Asche da ist?«”⁣

Die Charaktere, die erst so wunderbar schrullig auf mich wirkten, entwickeln beim Lesen keinerlei Tiefe, ganz im Gegenteil. Ein Klischee folgt auf das nächste, in genüsslicher, fast schon boshafter Übertreibung. Grünberg, so kam es mir vor, spielt damit, als jüdischer Autor jüdische Charaktere zu entwerfen, die einem nicht-jüdischen Autor möglicherweise sogar als antisemitische Propaganda ausgelegt würden: schmutzige, fanatische, verblendete, perverse Charaktere.⁣

Der Autor treibt die Satire so sehr auf die Spitze, dass jegliche Bedeutung für mich verloren geht und ich es auch nicht mehr originell finde. Das Buch will schockieren, also: dreckstarrende Wohnungen. Also: kultartige Ansichten. Also: Sex jenseits jeder Norm. Das ist mir zu einfach.⁣

Ich habe mit fundierter Gesellschaftskritik gerechnet, denn die Geschichte ist an einem Ort angesiedelt, an dem Juden aus vielen Ländern zusammenleben, oft auf relativ engem Raum. Und das in einer Gesellschaft, die sich kulturell nicht wirklich durchmischt – das ist eine Extremsituation.⁣

Ich will mehr über diesen Konflikt Palästinenser – Israeliten hören, aber hier kommt kein einziger zionistischer Jude zu Wort, der nicht als Zerrbild porträtiert wird. Einem zionistischen Blickwinkel müsste ich ja nicht beistimmen, aber ich will die Charaktere, die da leben und darin ihr Heil sehen, zumindest ein Stück weit verstehen. Das könnte gerne witzig und satirisch passieren, aber so funktioniert es für mich nicht – so wirkt die Kritik an dieser Lebensform auf mich sogar weniger prägnant, weil diese ohnehin als völlig surreal erscheint.⁣

Humor kann ein großartiges Stilmittel für Satire sein, aber hier ist er mir einfach zu platt. Auch Satire und Kritik sollten der “Gegenseite” noch etwas Menschlichkeit lassen.⁣

Kadokes Vater ist wahrscheinlich der normalste Mensch in diesem Käfig voller Narren, da kann man ihm kaum verübeln, dass er ständig verlangt: “Mach mich tot, bitte mach mich tot.” Das hat eine gewisse Komik, aber eine, die weh tut.⁣

Zwischendurch gab es immer mal wieder Sätze, sogar ganze Passagen, bei denen ich dachte: DAS ist das Buch, das ich lesen möchte. Aber erst im letzten Abschnitt konnte ich mich wieder etwas damit versöhnen, da rückte der Grundkonflikt durch eine unerwartete Entwicklung wieder mehr in den Fokus und der Klamauk fuhr soweit runter, dass die Ernsthaftigkeit durchscheinen konnte.⁣

Anat, die mir bis dato zu klischeehaft erschien, gewinnt im großen Finale mehr Tiefe und Dimension, obwohl ihre Ansichten und Handlungen nach wie vor sehr extrem sind. Aber es wird hier sehr deutlich, dass dahinter eine tiefe, grundlegende Angst und ein ererbtes Trauma stehen. Da gelingt der Balanceakt auf einmal wieder.⁣

Fazit⁣

Psychiater Otto Kadoke verliert nach falschen Anschuldigungen seine Lizenz und seinen guten Ruf. In einer Art Kurzschlussreaktion nimmt er die Einladung seiner zionistischen Großkusine Anat an, zu ihrer Familie ins Westjordanland zu ziehen, wo er ihr als geweissagtes Wunder viele Kinder zur Bevölkerung des Heiligen Landes machen soll.⁣

Was für eine Achterbahnfahrt war dieses Buch für mich! Hellauf begeistert in den ersten Abschnitten, dann maßlos enttäuscht, und im letzten Abschnitt konnte mich das Buch dann doch wieder überzeugen. Dennoch: auch wenn ich wieder ein Stück weit versöhnt wurde, finde ich die absurden Elemente der Geschichte einfach zu viel, zu gewollt schockierend, zu konstruiert. Meines Erachtens wäre es stimmiger, wenn der Autor die Absurdität ein klein bisschen heruntergefahren hätte.⁣

Grenzüberschreitende Satire kann großartig sein, hier wird sie für mich durch reine Übersättigung vollkommen ‘geschmacklos’ – im Sinne von, da ist keine Würze mehr drin, weil es so ein Mischmasch von gewollt schockierenden Elementen ist.⁣⁣
 
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