Nachwort und Fazit zu "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke"

Literaturhexle

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2. April 2017
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Die Gewinnerin des DBP 2021 Antje Rávik Strubel hat ein Nachwort geschrieben. Welche zusätzliche Erkenntnis könnt ihr daraus ziehen?
Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Bitte gebt uns ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich fand das Nachwort vor allem in Bezug auf die Biografie der Autorin und die damaligen Verhältnisse in ihrer Heimat lesenswert. Für die Interpretation des Romans hat es mir eher weniger gebracht.

Als Ganzes hat mir der Roman leider nicht besonders gut gefallen. Ich mochte den ersten Teil sehr gern, in dem die Autorin ganz nah dran an ihrer kleinen Protagonistin war und in warmherzigen Worten und eindringlichen Bildern eine ganz besondere Atmosphäre erzeugt. In diesen Momenten fühlte ich mich Leena nah und bin ihr gern gefolgt.

Leider driftete mir die Handlung dann aber zu sehr ab. Durch die zu starke Vermischung von Realität und Fantasie konnte und mochte ich ihr kaum noch folgen. Der Erzählung fehlte dadurch die Stringenz komplett. Der Tiefpunkt in dieser Hinsicht war für mich der vollkommen nervige Dialog mit dem schrecklichen Filemon. Philosophische Debatten, die mich langweilten oder die ich nicht verstand. Schade vor allem, dass dieser künstlich wirkende Dialog fast 20 Seiten einnimmt - bei einem Buch von gerade einmal 130 Seiten.

Auch im Finale fand ich nicht mehr in den Roman zurück, die Auflösung hinterließ bei mir große Fragezeichen. Die kindlich verspielten Lautmalereien trafen dabei nicht meinen Geschmack, während ich die poetischen Naturbeschreibungen schätzte.

Insgesamt mochte ich sprachlich recht viel an dem Büchlein, aber inhaltlich fand ich es größtenteils enttäuschend. Ich komme auf drei von fünf Sternen.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Hier ein Fazit zu ziehen, ist schwer.
Von welcher Seite will man kommen?
Biografisches habe ich nicht zu hinterfragen.
Literarisch ein Experiment.
Philosophisch an keinem Punkt einverstanden.
Als Roman misslungen.
Tscha ... Rezi wird kompliziert.
 

Naibenak

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2. August 2021
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Eieiei... ich kann zwar nicht mitlesen, bin speziell bei diesem Buch aber ein bisschen neugierig(er) und deshalb stürze ich mich direkt auf euer erstes Fazit... klingt ja gar nicht so toll wie ich gedacht habe... :oops:
...bin gespannt auf die anderen Meinungen :D
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Es ist tatsächlich ein Büchlein, das mich herausgeführt hat aus meiner üblichen literarischen Blase. Kindliche Perspektiven, magischer Realismus, Träume - all das sind eigentlich No Gos für mich.

Nun hat mich aber schon mancher nordische Roman aus dem Hause Guggolz trotz dieser Attribute begeistert. So bin ich in dieses Buch geraten, auf das ich mich einlassen musste.

Der erste Teil stellt die 9 jährige traurige, einsame Leena in sehr poetischen Bildern vor. Herzzerreißend. Dann kommt ihre Begegnung mit der Bachschen Musik - zweifellos eine Schlüsselszene - jedoch leider etwas verkorkst mit der Figur des Filemon. Den in der Tat nervigen Dialog habe ich weit ernster genommen als die kleine Protagonistin, was vielleicht ein Fehler war. Wenn man nicht versucht, Sinn hinter sein weinseliges Geplapper zu bringen, liest es sich leichter.

Danach verschwimmen Fantasie, Traum und Realität. Das muss man annehmen können. Mit klarer Erwartung nach Struktur wird das nichts. Zum Glück hatte ich diese Leserunde! Dadurch konnte ich den letzten Teil wieder genießen. Es gilt, sich in dieses fantasiebegabte Kind mit seinem Scheitern an der Umwelt hineinzufühlen. Man muss die Welt mit Leenas Augen sehen. Die daraus resultierenden Bilder haben Schönheit und Magie.

Es war ein Stück Arbeit. Aber am Ende habe ich Gewinn aus dem Buch gezogen, es hat mir gefallen. Es besitzt viel Poesie, es ist kein "normaler" Roman, Gewissheiten verschwimmen. Wie ich das am Ende bewerte, wird die Rezension zeigen.


Ich fand das Nachwort vor allem in Bezug auf die Biografie der Autorin und die damaligen Verhältnisse in ihrer Heimat lesenswert. Für die Interpretation des Romans hat es mir eher weniger gebracht.
Dem schließe ich mich an. Der Roman ist stark autobiografisch geprägt. Insofern werden die komplexen Gefühlslagen Leenas einigermaßen authentisch sein. Was bin ich froh, dass meine Kindheit freudvoller verlief!
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ich habe das Buch nicht komplett noch einmal gelesen, sondern mir verschiedene "Schlüsselszenen" etc. noch einmal gezielt herausgepickt und sie mit dem Hintergrundwissen der Mannerschen Übersetzungstätigkeit (Kafka, Carroll etc.) noch einmal "neu" bewertet. Tja, nun - was soll ich sagen? Ich bin überwältigt, was ein Roman (oder Novelle oder was auch immer) auf 130 Seiten erzählen und nicht erzählen kann, was man sich als Leser "erarbeiten" muss und wie tiefsinnig, traurig auf der einen, aber auch hoffnungsvoll und voller Humor auf der anderen Seite (Licht und Schatten) so ein voller Lyrik steckender Text sein kann. Und so komme ich trotz meiner Fragezeichen, die ich beim ersten Lesen hatte (die aber dank dieser großartigen Leserunde und dem starken Plädoyer des Herausgebers immer kleiner wurden :cool:) nach der erneuten Lektüre nicht umhin, 5* zu zücken. :cool:
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Und so komme ich trotz meiner Fragezeichen, die ich beim ersten Lesen hatte (die aber dank dieser großartigen Leserunde und dem starken Plädoyer des Herausgebers immer kleiner wurden :cool:) nach der erneuten Lektüre nicht umhin, 5* zu zücken. :cool:
:joy :joy :joy
Das freut mich! Für einen Lyrikfan wie dich wurde das Buch schließlich geschrieben...
Es steckt weit mehr drin, als man auf den ersten Blick sieht. Aber man muss sich einlassen und so etwas auch mögen, um es wertschätzen zu können;)
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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:joy :joy :joy
Das freut mich! Für einen Lyrikfan wie dich wurde das Buch schließlich geschrieben...
Es steckt weit mehr drin, als man auf den ersten Blick sieht. Aber man muss sich einlassen und so etwas auch mögen, um es wertschätzen zu können;)
Absolut, liebe @Literaturhexle , absolut. Ich bin froh, diese Perle mit euch gemeinsam entdeckt und diskutiert zu haben! :cool:
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe es vorhin auf der Couch liegend ausgelesen und der dritte LA hat mich "voll erwischt", geradezu ergriffen. Mir fallen die Anspielungen auf Andersens Märchen auf, die kleine Seejungfrau und die Geschichte über Elisa, deren Brüder in Schwäne verwandelt wurden und nur mit Hilfe von Brennesselhemden entzaubert werden konnten. Märchenfiguren, die aus ihrer Sphäre heraustreten (die Seejungfrau) oder missverstanden und ausgestoßen werden (Elisa). Auch die Passage gegen Ende, als sie nach einer Abwesenheit unbestimmter Dauer nach Hause kommt und es ist alles menschenleer, erinnert an traditionelle Märchen wie Rip van Winkle und andere Geschichten über Leute, die hundert Jahre geschlafen haben und meinen, sie seien gar nicht älter geworden. Aber vielleicht ist sie da auch in einer anderen, fremden Dimension ...?
Ich werde einige Passagen noch einmal lesen. Es ist, als wäre sie nicht gestorben, sondern in eine andere Dimension entrückt.
Das Buch ist kein Wohlfühlbuch, das man mit Spaß liest, wie den Krimi, den wir zuletzt hatten. Aber es hat sehr kostbare Momente, die mich auch an meine eigene Kindheit erinnert haben und an eigene Erlebnisse.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Es ist, als wäre sie nicht gestorben, sondern in eine andere Dimension entrückt.
Man kann es auch als ein Aus-dem-Leben-Gleiten, als den Abschluss eines bestimmten Abschnittes, deuten. Eine Erlösung dadurch, dass Leena, die nirgendwo wirklich Halt findet, nicht mehr existieren muss, dass sie diese Last los wird.
Solch eine Interpretation habe ich auch gefunden. Man kann vieles deuten.

Aber mit den öligen blonden Haaren im Wasser wird mir das schon wieder traurig konkret... Ich suche immer das Reale, Greifbare. Ich kann mich nicht in der Fantasie verlieren. Schade eigentlich;)

Aber es hat sehr kostbare Momente, die mich auch an meine eigene Kindheit erinnert haben und an eigene Erlebnisse.
Was Schöneres kann ein Buch doch kaum leisten :helo
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe auch an ähnliche unvestandene Kinder in der Literatur gedacht, wie Hanno Buddenbrook oder der arme Junge in Hesses "Unterm Rad". Aber Manner hat eine ganze andere Art zu erzählen. Das einzige, was mir im Moment als "verwandte Literatur" einfällt, sind einige Passagen in "Ditte Menschenkind" von Nexö. Nexö ist Däne, wie Andersen. Vielleicht gibt es da eine Art literarische Verwandtschaft? Die Dichterin Manner scheint ja, wenn man nach dem Nachwort geht, in ihrer Heimat beinahe im literarischen Niemandsland gewirkt zu haben.
 

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
So, Buch und Nachwort sind nun gelesen, ebenso die Stellungnahme des Verlegers. "...
ich kann nur sagen, dass ich den Roman viel stärker auf der Grenze zwischen Traum, innerer Welt und äußerer Welt lese, vieles sind Traumbilder, innere Bilder, die eher auf einer metaphorischen Ebene gelesen werden sollten." - Das habe ich schon verstanden, trotzdem fand ich keinen wirklichen Zugang zu der Erzählung. Immerhin scheinen wir alle es so verstanden zu haben, dass das Mädchen am Ende stirbt. Mir war das zu viel an Metaphorik, Interpretationsspielraum, Verwebung der Ebenen. Die poetische Sprache rettet bei mir immerhin den dritten Stern.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ich habe lange mit mir gerungen, wie ich werten soll, und mich dann doch für die fünf Punkte entschieden. Einmal muss man ja entschieden den Mut loben, ein Buch wie dieses überhaupt zu verlegen - wenn ich das Angebot eines durchschnittlichen Kettenbuchladens angucke, das, womit heute das meiste Geld im Verlagsgeschäft gemacht wird, dann sticht ein Buch von Guggolz heraus wie ein handgemachtes Roggenbrot in einer Reihe von China-Aufbackware (sorry, das war der erste Vergleich, der mit einfiel). Und dann ist es ja, im Rahmen dessen, was es sein will, ein wunderbares Buch. Ich habe viele Passagen jetzt mehrmals gelesen, mehr oder weniger das ganze Buch noch mal. Es ist sicher keine Entspannungslektüre für die Couch, aber jedenfalls eine kleine Kostbarkeit. Also - ich habe kurzerhand die Höchstwertung gezückt mit der Einschränkung, dass das wohl eher ein Buch für Lyrikliebhaber ist.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ich habe lange mit mir gerungen, wie ich werten soll, und mich dann doch für die fünf Punkte entschieden. Einmal muss man ja entschieden den Mut loben, ein Buch wie dieses überhaupt zu verlegen - wenn ich das Angebot eines durchschnittlichen Kettenbuchladens angucke, das, womit heute das meiste Geld im Verlagsgeschäft gemacht wird, dann sticht ein Buch von Guggolz heraus wie ein handgemachtes Roggenbrot in einer Reihe von China-Aufbackware (sorry, das war der erste Vergleich, der mit einfiel). Und dann ist es ja, im Rahmen dessen, was es sein will, ein wunderbares Buch. Ich habe viele Passagen jetzt mehrmals gelesen, mehr oder weniger das ganze Buch noch mal. Es ist sicher keine Entspannungslektüre für die Couch, aber jedenfalls eine kleine Kostbarkeit. Also - ich habe kurzerhand die Höchstwertung gezückt mit der Einschränkung, dass das wohl eher ein Buch für Lyrikliebhaber ist.
Schönes Plädoyer, liebe Häsin! :cool:
 

Barbara62

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19. März 2020
3.870
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Mein Fazit ist positiv, trotz des kurzen "Durchhängers" im zweiten LA. Für mich drängen sich gewisse Parallelen zum Eis-Schloss geradezu auf. Als Leena die Kirche entdeckt, war das für mich wie die Entdeckung des Eis-Schlosses. Sehr traurig sind beide Romane.

Vier Sterne gibt es für mich auf jeden Fall, vielleicht taucht sogar beim zweiten Durchgang noch ein fünfter auf. Ich gebe der Häsin recht, dass es eher ein Nischenprodukt ist, aber genau dieses Publikum möchte Sebastian Guggolz bedienen.

Die Überhöhung eines kindlichen Selbstmordes, den @Wandablue sieht, würde ich natürlich ablehnen, wenn ich es als eine Aufforderung zu einem solchen lesen würde. Diesen Eindruck hatte ich allerdings nie. Eher empfand ich es als kurviges Zusteuern auf ein von Beginn an absehbares Ende, das mit wenig Zutun hätte verhindert werden können.

Fazit: absolut lohnende Lektüre und eine Entdeckung, viel Potential zum Grübeln und Diskutieren, lyrisch und reich an Metaphern, nichts für den breiten Markt, aber ein typischer Titel für literarische Buchhandlungen mit außergewöhnlichem Profil.