Nachwort "Der Schrei durch die Welt" (Seite 77 bis 114)

Literaturhexle

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Hier sprechen wir über das ausführliche Nachwort von Schriftsteller Erik Fosnes Hansen. Welche Erkenntnisse hat es euch gebracht?
 

Anjuta

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Essen
Nachdem ich mit viel Genuss die Erzählung "Babettes Gastmahl" in dieser wunderschön gestalteten Manesse-Ausgabe gelesen habe, hat mich das Nachwort von Erik Fosnes Hansen eher enttäuscht. Irgendwie fand ich dort zu viele Stellen, in denen Hansen eher abschweifte und herumschweifte. So fand ich beispielsweise den Beginn mit den Gedanken zu Rankings, ehrlich gesagt, vollkommen überflüssig, um irgendwann dann doch bei der hier zu besprechenden Erzählung zu landen. Und dann: Wie oft durften wir lesen, dass der Autor 55 Jahre alt ist. Ich meine mich an 3 Stellen zu erinnern. Und wir erfahren auch noch von seiner Lebenserfahrung in Sachen Gourmetküche. Ah ja, er hat zwischenzeitlich als Restaurantkritiker gearbeitet. Und können auch mit ihm gemeinsam einen ausführlichen Blick aus seinem Schreibzimmer auf den Vesteralen werfen. So viel "Ich" brauchte ich wirklich nicht in einem Nachwort zu einer Erzählung, die an sich genug Stoff zu punktgenauen Informationen, Interpretationen und Anschauungen bietet. Soweit also die für mich wirklich ärgerlichen Teile dieses Nachworts.
Aber es bot für mich auch Interessantes und Hilfreiches für die Verarbeitung der Lektüre: Bereichert haben mich vor allem seine Ausführungen dazu, dass es in Babettes Gastmahl weniger um das Mahl als vielmehr um die Gäste geht. Es ist das Publikum, das Babette hier gesucht und gefunden hat. Das hat mich für die Erzählung wirklich überzeugt. Zuvor war ich wahrscheinlich wirklich von den Erwartungen, genährt durch den Film, der es nicht versäumt, genüsslich und ausschweifend in den Bildern des gedeckten Tisches zu schwelgen, etwas in die Irre geleitet worden. Und dennoch: hier hat sich für das Nachwort der Verlag und das Lektorat wohl nicht getraut, dem großen Erik Fosnes Hansen etwas mehr auf die Finger zu schauen. Eine Kürzung um die Ich-Teile hätte dem Nachwort sehr gut getan!
 
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Literaturhexle

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Ich habe dieses umfangreiche Nachwort unbedingt gebraucht, um die zweite Ebene der Handlung zu erkennen, das gebe ich zu. Die Erzählung ist wunderhübsch geschrieben, interessante Charakterzeichnungen in dieser für sich abgeschiedenen Welt, feiner Humor, eine ansprechende Handlung.... Ja, aber: Was will mir die Dichterin damit sagen?
Zwei Vokabeln springen mir da ins Gesicht: Künstlererzählung ("Der Künstler muss viel ertragen , es zählt das hehre Ziel, die gloire, der Kunst") und fantastische Erzählung. Das, was mir befremdlich vorkommt, ist also wirklich so gewollt. Künstlererzählung in Bezug auf Babette, aber auch auf Philippa, deren Stimme jetzt die Welt für sich einnimmt und später die Engel im Jenseits verzaubert.

Deutlich macht Fosnes Hansen die Lage des Schauplatzes am buchstäblichen "Ende der Welt", in der Babette als fremder Vogel anlandet. Diese Diskrepanz muss man sich verdeutlichen.

Einen Zusammenhang, der mir auch entgangen ist (allerdings bin ich gerade auch etwas unfit), ist die Anzahl der Teilnehmer: 12 beim Gastmahl, 12 beim Abendmahl. Beide führen die Menschen zusammen, lassen Differenzen verschwimmen - (Göttliche?) Magie ist in der Luft.

Der Preis des Menüs kam mir tatsächlich auch sehr hoch vor, das schlüsselt Fosnes Hansen glaubwürdig auf. Doch das ist nicht wirklich wichtig.

Mir gefällt es, dass Fosnes Stellung bezieht zum aktuellen Trend, Klassiker nach heute geltenden moralischen, ethischen und politischen Normen zu bewerten und ggf. zu korrigieren. Auch mir geht die political correctness da einen dicken Schritt zu weit. Ein Klassiker ist vor dem Hintergrund seiner Zeit und der damals geltenden Sitten zu verstehen. Die Leserschaft ist in der Lage, das selbständig ohne Zensur einzuordnen.
 
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otegami

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Deutlich macht Fosnes Hansen die Lage des Schauplatzes am buchstäblichen "Ende der Welt", in der Babette als fremder Vogel anlandet. Diese Diskrepanz muss man sich verdeutlichen.
Ja, diese Topographie empfand ich als sehr hilfreich! Wie Du so schön schreibst, das verdeutlicht uns noch einmal mehr die Diskrepanz!
Der Preis des Menüs kam mir tatsächlich auch sehr hoch vor, das schlüsselt Fosnes Hansen glaubwürdig auf. Doch das ist nicht wirklich wichtig.
Das sehe ich auch so! Fand aber auch den Einwurf von Hansen gut, warum Babette sich nicht vom regionalen Angebot bedient hat. Aber dann wäre der Hinweis auf das 'Café Anglais' nicht so ins Auge gestochen! (Gut fand ich bei den Anmerkungen, in welchen Werken schon dieses Restaurant erwähnt worden war.)
 
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Mir gefällt es, dass Fosnes Stellung bezieht zum aktuellen Trend, Klassiker nach heute geltenden moralischen, ethischen und politischen Normen zu bewerten und ggf. zu korrigieren. Auch mir geht die political correctness da einen dicken Schritt zu weit. Ein Klassiker ist vor dem Hintergrund seiner Zeit und der damals geltenden Sitten zu verstehen. Die Leserschaft ist in der Lage, das selbständig ohne Zensur einzuordnen.
Ich kenne das Nachwort ja nicht, aber ich vermute, Hansen bezieht das auf die Stelle mit der Schildkröte?
Ich kann mir vorstellen, wie heutige Leser da zusammenzucken ...
 
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Literaturhexle

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Die Schilkröte hat hier eher Bezug zur Hexenküche. Ein solches Tier ist für die Schwestern ja extrem fremd gewesen.
Das Nachwort umfasst 8 Kapitel. Im 6sten berichtet er über Karens Werk und gibt eher das allgemeine Statement ab. Wörtlich:
Inzwischen werden ja sogar Künstler der Vergangenheit gern nach moralischen und politischen Standards beurteilt, die sie nicht einmal kannten;selbst unseren Klassikern droht die Gefahr, verdammt zu werden.
(...)
Für manch einen oder eine ist es der alleinige Maßstab, mit dem Literatur und Kunst beurteilt werden: Inwieweit könnte sich jemand von etwas gekränkt fühlen oder nicht.
Da rennt er bei mir offene Türen ein. Wer suchet, der findet. Der Ansatz allein ist schon falsch.
Du solltest dir diese Klassiker nicht entgehen lassen. Angeblich soll diese Übersetzung auch vollständiger sein, weil aus dem Dänischen übersetzt. Blixen schrieb die Erz in Englisch, übersetzte sie aber selbst ins Dänische, wobei sie sich Freiheiten und Ergänzungen erlaubt haben soll.
 

Die Häsin

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Ich habe ja eine Ausgabe mit allen Schicksalsanekdoten, und auf "Babettes Gastmahl" folgt dort "Stürme", das eine Art Fortschreibung von Shakespeares Sturm sein soll. Margaret Atwood hat sich in "Hexensaat" in ihrer Danksagung ausdrücklich auf Blixens Erzählung berufen. Ich möchte also eigentlich gern dort weitermachen. Im Moment tue ich mich allerdings schwer mit Blixens Erzählton; ich bin gerade extrem ruhelos und würde am liebsten ganz schlichte Krimis lesen, aber damit bin ich auch gerade hereingefallen ...
 
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Richtig. Da passt Blixen dann eher nicht;)
Zumindest das Gastmahl ist etwas für Genussleser.
Es steht ja nicht genau da, was man isst. Ich hätte das eigentlich gern etwas genauer gehabt.

Ich liebe Geschichten, die vom Essen handeln.
Bei Jean Ray gibt es eine ganz kurze Geschichte von einem Mann, der mit dem Zug extra zu einem unbekannten Ort fährt, weil ihm jemand erzählt hat, dass er dort das weit und breit beste Sauerkraut zu essen gibt. Sowas mag ich. Allerdings geht nimmt das Essen einen sehr merkwürdigen Verlauf - ich glaube, er sitzt dann ganz allein in der Gastwirtschaft und plötzlich schlagen blaue Blitze aus dem Sauerkraut, oder irgendwas in der Art ...
 

otegami

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Es steht ja nicht genau da, was man isst. Ich hätte das eigentlich gern etwas genauer gehabt.
*Giggel* am besten gleich mit Rezept, stimmt's? :D

Ich hatte 'Genussleser' anders interpretiert: dass jedes Wort auf der Zunge zergeht, dass man sich Zeit lässt und einfach genießt! (Egal, wie lange es dauert!)
Das Gegenteil ist für mich der 'Massenleser' (auch da können Genussleser dabei sein!), aber ihm kommt es drauf an: Hauptsache wieder ein Buch konsumiert. (Er hat das aber auch schnell wieder vergessen.)

Dieser Unterschied wurde in Punkto Essen in Buch 'Butter' so schön gezeigt: auf der einen Seite die notwendige, aber als zeitfressende überflüssig empfundene, reine Nahrungsaufnahme, auf der anderen Seite der Genuss! (Beim letzteren lief mir schon beim Lesen das Wasser im Mund zusammen, so plastisch wurde das geschildert!)
 

Literaturhexle

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Ich hatte 'Genussleser' anders interpretiert: dass jedes Wort auf der Zunge zergeht, dass man sich Zeit lässt und einfach genießt!
So hatte ich es auch gemeint;)
Ich habe es tatsächlich nicht so mit Essen (und Rezepten) in Romanen, auch hätte mich ein detaillierterer Blick in die französische Küche wohl eher abgeschreckt. Mir hat es gut gefallen, dass das Mahl an sich nicht den Mittelpunkt bildete, sondern eher seine Wirkung.
 

RuLeka

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Ich fand das ausführliche Nachwort von Erik Fosnes Hansen sehr aufschlussreich. Einerseits sehr subjekti, vieles aus der Warte eines Kollegen, trotzdem oder gerade deshalb äußerst hilfreich für mich.
Er bringt uns die Schriftstellerin Karen Blixen nahe ( sowohl biographisch als auch von ihrem Verständnis als Künstlerin ), ordnet die Erzählung literaturwissenschaftlich ein ( fantastische Erzählung oder Schicksalsanekdote), erklärt den örtlichen und zeitlichen Hintergrund, und interpretiert den Inhalt .
Die Problematik eines Kanons ist ihm wohl bewusst, trotzdem ordnet er „ Babettes Gastmahl“ in seine Liste der 10 besten Erzählungen weltweit ein.
Warum? Sie hat sog. ewige Qualitäten, das bedeutet, dass sie dem Leser zu verschiedenen Lebensstufen was Neues zu sagen hat.
Und sie ist wohlkomponiert, d.h. nichts Überflüssiges, dicht, keine losen Fäden, keine Längen, jedes Detail ist wichtig.

Mir gefällt es, dass Fosnes Stellung bezieht zum aktuellen Trend, Klassiker nach heute geltenden moralischen, ethischen und politischen Normen zu bewerten und ggf. zu korrigieren. Auch mir geht die political correctness da einen dicken Schritt zu weit. Ein Klassiker ist vor dem Hintergrund seiner Zeit und der damals geltenden Sitten zu verstehen. Die Leserschaft ist in der Lage, das selbständig ohne Zensur einzuordnen.
Das sehe ich genauso. Wir können doch nicht anfangen, alle Klassiker umzuschreiben, jedes Libretto umzudichten usw. Kommen Begriffe oder Habdlungen in Kinderbüchern vor, die wir heute nicht mehr benutzen oder anders interpretieren, ist der Erwachsene gefragt. Er muss das für Kinder einordnen, mehr aber nicht.
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Ich liebe Geschichten, die vom Essen handeln.
Ich habe es tatsächlich nicht so mit Essen (und Rezepten) in Romanen, auch hätte mich ein detaillierterer Blick in die französische Küche wohl eher abgeschreckt. Mir hat es gut gefallen, dass das Mahl an sich nicht den Mittelpunkt bildete, sondern eher seine Wirkung.
ich halte es hier so wie @Literaturhexle
Ich mag detaillierte Beschreibungen von Mahlzeiten in Romanen überhaupt nicht. In italienischen Krimis wird das oft und gern gemacht. ich blättere da immer weiter.
Aber ich liebe Kochbücher. :)

Ich habe das Nachwort gerne gelesen und es hat mich bei meiner Interpretation der Erzählung unterstützt.

Erik Fosnes Hansens Einstellung zu Listen finde ich gut.