Mimikry (S. 30 - 51)

SuPro

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...gena
vielleicht will uns die Autorin vor Augen führen, dass das eine mögliche Reaktion darauf sein kann, wenn man ständig beschimpft und verurteilt wird.
...so sehe ich das auch.
Hinter dieser konkreten Geschichte gibt es allgemeingültige Prozesse, Probleme und Themen. Hier, in dieser Geschichte bekommt jede Seite ihr Fett ab. Keine ist nur gut oder nur schlecht. Keine handelt nur gut oder nur schlecht. An Beidpirlen mangelt es nicht.
Und darüber hinaus zeigt Krien eine mögliche Dynamik auf, wie Feindlichkeit, Feindseligkeit und Hass entstehen können. Ein Ping Pong Spiel ist es dann irgendwann. Das wird hier am konkreten Beispiel gezeigt und das kann auf sämtliche aktuellen Konflikte dieses Themenspektrums angewendet werden.
 

MRO1975

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11. August 2018
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...es scheint auch mir, eine Metapher zu sein.
Nein, ich denke nicht, dass die Autorin "Muldental" als Metapher verwendet hat. Wie schon gesagt wurde, ist das Muldental ein realer - ziemlich großer - Landstrich in Sachsen. Die Autorin kommt aus Leipzig, die Muldentaler sind quasi ihre Nachbarn.

Ich würde der Autorin daher nicht unterstellen wollen, dass sie mit dem Titel sagen wollte, dass das Muldental ein Ort ist, aus dem - zumindest in ihrem Buch - nur Verlierer kommen (weil Mulde und Tal beides tief liegt...). Dann dürften sich die dortigen Bewohner zu Recht beleidigt fühlen.

Da der Titel offenbar zu solchen Spekulationen einläd, ist er offensichtlich nicht gut gewählt. Die Autorin hätte doch lieber einen fiktiven Ort wählen sollen. Ich denke da gerade an "Unterleuten" von Juli Zeh. Da kann man auch trefflich über den Titel nachdenken - zum Glück gibt es diesen Ortsnamen offenbar nicht.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Nein, ich denke nicht, dass die Autorin "Muldental" als Metapher verwendet hat. Wie schon gesagt wurde, ist das Muldental ein realer - ziemlich großer - Landstrich in Sachsen. Die Autorin kommt aus Leipzig, die Muldentaler sind quasi ihre Nachbarn.

Ich würde der Autorin daher nicht unterstellen wollen, dass sie mit dem Titel sagen wollte, dass das Muldental ein Ort ist, aus dem - zumindest in ihrem Buch - nur Verlierer kommen (weil Mulde und Tal beides tief liegt...). Dann dürften sich die dortigen Bewohner zu Recht beleidigt fühlen.

Da der Titel offenbar zu solchen Spekulationen einläd, ist er offensichtlich nicht gut gewählt. Die Autorin hätte doch lieber einen fiktiven Ort wählen sollen. Ich denke da gerade an "Unterleuten" von Juli Zeh. Da kann man auch trefflich über den Titel nachdenken - zum Glück gibt es diesen Ortsnamen offenbar nicht.
Sie (die Figuren in den Geschichten) sind zwar schon auf die ein oder andere Art "Verlierer", die es aber auch in jeder x-beliebigen Stadt und in jedem Landstrich gibt. Sie wollte dem Muldental anscheinend ein literarisches Denkmal setzen, so wie es andere Autor*innen auch schon getan haben (Selma Lagerlöf). Trotz der negativen Stimmung gegenüber den Personen der Geschichten aus dem Muldental bewahren alle meiner Meinung nach mehr oder weniger ihre Haltung. Ich würde mich als Muldentaler wahrscheinlich irgendwo in den Geschichten erkennen im Sinne von "Ja, ich verstehe die Haltung und Einstellung von Person x" und wäre stolz darauf, aus dem Muldental zu kommen.
 

SuPro

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Ich musste erst mal nach Muldental googeln
... ich habe gerade was entdeckt, das mir enorm gut gefällt:
Der Muldentalkreis existierte ja nur vorübergehend (1994-2008) aus einem Zusammenschluss mehrerer Kreise und wurde dann umbenannt in ORT DER VIELFALT.
Wie toll ist das denn?! Der Roman ist ja gewissermaßen auch ein Ort der Vielfalt. Vielfältige Geschichten, unterschiedliche Schicksale...
Ich glaube, dass der Titel sehrwohl auch eine metaphorische Bedeutung haben könnte/hat...
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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... ich habe gerade was entdeckt, das mir enorm gut gefällt:
Der Muldentalkreis existierte ja nur vorübergehend (1994-2008) aus einem Zusammenschluss mehrerer Kreise und wurde dann umbenannt in ORT DER VIELFALT.
Wie toll ist das denn?! Der Roman ist ja gewissermaßen auch ein Ort der Vielfalt. Vielfältige Geschichten, unterschiedliche Schicksale...
Ich glaube, dass der Titel sehrwohl auch eine metaphorische Bedeutung haben könnte/hat...
Ich war auch überzeugt, dass die Autorin ihrer Heimat sicher kein schlechtes Denkmal mit diesen tragischen Geschichten setzen will. Höchstens will sie Aufmerksamkeit auf manchen lenken, der an der Wende gescheitert ist. Auch wenn die Geschichten eher traurig bis tragisch sind, empfinde ich sie als außerordentlich gekonnt und empathisch geschrieben.
Augenscheinlich haben sich am Begriff Muldental die Geister geschieden. Ort der Vielfalt klingt da wesentlich ansprechender.

Hab Dank für diese Recherche!
 

Querleserin

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Um die Diskussion abzuschließen, ist der Begriff „Muldental“ tatsächlich auch ein geographischer, unabhängig von der Mulde in Sachsen:


Das Muldental
Eine sehr weit verbreitete Talform ist das Muldental. Dem Fluss werden von der Flächenabtragung an den Hängen mehr Gesteinsbrocken zugeführt, als das Wasser wegspülen kann.

Die Folge: immer mehr Geröll bleibt in der Talsohle liegen und bildet einen weichen Übergang zwischen Talsohle und Talwänden. Der Fluss sucht sich seinen Weg und verläuft im tiefsten Punkt der Mulde. (Quelle:https://www.planet-wissen.de/natur/gebirge/schluchten/index.html)
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

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Ich werde die Diskussion mal versachlichen und auf die Geschichte zurückkommen.


Krien will uns meiner Meinung nach die Vorurteile, die immer noch existieren, in dieser Geschichte spiegeln. Sie sind sehr extrem, aber in solcher und abgeschwächter Form sicherlich noch in vielen Köpfen zu finden.
Interessant finde ich den Rat der Mutter, Anne solle sich anpassen. Das klingt zunächst einmal so, als ob sich nichts geändert hätte oder so, als solle sie sich nicht als "Ossi" outen, um nicht "verurteilt" zu werden.
Mit der Aggressivität und der Zerstörungswut der beiden habe ich auch so meine Probleme - vielleicht will uns die Autorin vor Augen führen, dass das eine mögliche Reaktion darauf sein kann, wenn man ständig beschimpft und verurteilt wird.
Die beiden nutzen es als Ventil - was ich persönlich nicht richtig finde, aber Krien will ja keine Friede-Freude-Eierkuchen -Geschichten schreiben. Der Schockmoment ist gewollt.


Gerade deswegen finde ich die Geschichte gut, da sie uns die Vorurteile spiegelt und auch zeigt, zu welchem extremen Verhalten sie bei Menschen führen können, wenn sie permanent mit Vorurteilen konfrontiert werden.


Ich dachte eher, er kommt auch aus der ehemaligen DDR, daher sein Verständnis für Anne und die Entschuldigungen für die unmögliche Patientin. Deren Verhalten ist völlig inakzeptabel - da kann ich Annes Aggression nachvollziehen - aber nicht, wie sie sie auslebt.

Ich teile deine Sicht in vielen Punkten. Mir hat die Geschichte sehr gefallen!

Anne und Mattis repräsentieren für mich zwei junge Menschen, die durch Ereignisse gezwungen wurden ihre Heimat zu verlassen. Denn sie wirken auf mich nicht so, als würden sie sich wohlfühlen. Genauso könnte man nämlich auch fragen, warum sind sie denn nicht zu Hause? Dieser Zwang, angepasst zu leben, um etwas dafür zu erhalten, löst gerade in jungen Menschen rebellische Gedanken aus.

Durch ihre Jugend, Anne lernt 1991 in Franken, arbeitet in der Zahnarztpraxis, kann sie sich vielleicht noch nicht vollkommen mit negativen Erlebnissen befassen, damit umgehen. Sie steht allein, ohne Familie, hat mit Mattis eine eingeschworene Gemeinschaft gegründet, grenzt sich ab, dass äußere Erscheinungsbild lässt dies etwas vermuten. Für ihre Umgebung sind sie nicht nur durch das Auto als Ossi zu erkennen, sondern auch durch ihre Kleiderwahl als Unangepasste. Schwarze Kleidung = sie kokettieren ebenso mit dem Begriff Satanisten.

Der Raum in dem beide sich aufhalten, das ländliche Franken, reagiert vielleicht auf Schwarzgewandete Menschen noch etwas anders als Gemeinden mit einer höheren Bevölkerungsdichte und einer besseren kulturellen Anbindung. So machen sie sich nicht nur durch ihre Ossi-Herkunft zu Auffälligen, sondern auch durch eine unangepasste Kleidungswahl.

Ich glaube auch nicht, dass die Autorin dass ländliche Franken umsonst gewählt hat. Gerade in der Zeit nach der Wende, vielleicht auch durch einen nicht enden wollenden Zustrom an Ossis, die den Westen aufsuchen wollten, kam es im genannten Gebiet schon zu Aggressionen gegenüber Ostdeutschen. Schade. Aber heilig ist glaube ich niemand von uns. :(
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

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...das erschließt sich im Detail niemandem, aber die Autorin wollte damit, meine ich, zeigen, wie Hass, Vorurteile und Abwertungen Hass, Wut und Gewalt schüren können. Und zwar völlig umgerichtet und auch nicht zu erschließen... nachvollziehbar sind die Gefühle und Impulse schon, aber erwachsene Menschen sollten ihr Handeln steuern können.
Stimmt und genau das sind beide vielleicht noch nicht. Vielleicht sind sie noch in der Lehre und damit noch in einer Zeit der Entwicklung. Und sie sind allein. Die Familie wohnt woanders, eventuell der Leipziger Raum. …
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Mit dieser Geschichte habe ich auch meine Schwierigkeiten, weil sie massiv mit Vorurteilen und Stereotypen beladen ist - hüben wie drüben.
Diese Vorurteile stören mich jetzt nicht so massiv. In der damaligen Zeit empfinde ich das eher normal/nachvollziehbar. Man musste sich ja erst beschnuppern und kennenlernen. Auch diese Geschehnisse in Franken finde ich zum Teil verstehbar. Wenn sich wochenlang eine Flut von Bewohnern der neuen Bundesländer über deine Gegend ergießt, kann einem schon der Kragen platzen. Aber Gedanken kann man haben, es sollten sich nur keine daraus folgenden Taten ergeben.

Schlimmer finde ich eher, dass sich auch noch heute viele dieser Vorurteile halten. Auf beiden Seiten! Leider! Aber vielleicht kann ja auch dieses Buch helfen. :);)
 
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Gelöschtes Mitglied 2403

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Ich war auch überzeugt, dass die Autorin ihrer Heimat sicher kein schlechtes Denkmal mit diesen tragischen Geschichten setzen will. Höchstens will sie Aufmerksamkeit auf manchen lenken, der an der Wende gescheitert ist. Auch wenn die Geschichten eher traurig bis tragisch sind, empfinde ich sie als außerordentlich gekonnt und empathisch geschrieben.
Augenscheinlich haben sich am Begriff Muldental die Geister geschieden. Ort der Vielfalt klingt da wesentlich ansprechender.

Hab Dank für diese Recherche!
Interessant in diesem Sinne ist auch Folgendes. Daniela Krien ist in Neu-Kaliß in Mecklenburg-Vorpommern geboren, in Jena und im Vogtland aufgewachsen und erst 1999 nach Leipzig gekommen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Daniela_Krien

Warum dann der Titel Muldental?
 
G

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Krien beschreibt Geschichten, die grundsätzlich auch an anderen Orten spielen können. Verlierer gibt es allerorten.
Warum denn Verlierer? In der ersten Geschichte eröffnen sich für Frau und Sohn neue Horizonte und in der zweiten agieren die Teilnehmer Anne und Mattis und werden sicher reagieren und ein schöneres Fleckchen finden. Bin jetzt schon gespannt was ich zu den weiteren Geschichten sagen werde. :);)
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
...das sehe ich anders. In dieser Geschichte geht es um Aktion und Reaktion. Um Henne und Ei. Um Auge um Auge – Zahn um Zahn. Darum, dass Hass und Gewalt Hass und Gewalt schüren.
Wenn man genau liest, dann werden hier die Ossis nicht stigmatisiert. Im Gegenteil, man kann erkennen, woraus sich ihr (Anne und Mattis) Zorn nährt. Man erkennt auch, dass sie (also Anne und Mattis) „gute Gründe“ für ihre Gefühle und Impulse haben ... nicht für ihre Taten.
Und man erkennt, wie schwachsinnig die Vorurteile und Verallgemeinerungen mancher Wessies sind/waren.
Psychologisch gesehen ist diese Kurzgeschichte äußerst fein und klug „komponiert“.
Applaus, Applaus. Genauso sehe ich das auch! Und ich habe die Geschichte schmunzelnd gelesen! Selbst der Brief hat mich nicht hoch gebracht. (PS: Die Gewalt lehne ich natürlich auch ab.)
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Das Verhalten des Chefs ist völlig indiskutabel. Den Brief hat er sicher nicht geschrieben ( das passt nicht zu ihm ). Aber er hätte sich vor seine Angestellte stellen müssen, wenn eine Patientin mit so haarsträubenden Vorwürfen kommt wie fremde Bakterien. Auch innerhalb des Kollegiums müsste er dafür sorgen, dass nicht Stimmung gegen Anne gemacht wird.
Damit hast du recht! Aber passiert das wirklich? Denn er denkt ja wirtschaftlich. Und wenn selbst manche riesige Unternehmen nicht für ihre Mitarbeiter einstehen, kann das denn ein kleiner Unternehmer. Noch dazu im ländlichen Raum und der damaligen Zeit. Heute wäre das bei der Knappheit von Ärzten schon etwas anderes. Aber passiert es heute? … :confused::confused:
 
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SuPro

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28. Oktober 2019
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Baden Württemberg
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Doch was sind falsche Hände? Und wer legt das fest? ….:confused::confused:
...mit „falsche Hände“ meine ich Menschen, die nicht willens oder fähig genug sind, sich zu öffnen, einzufühlen, einzudenken und etwas vorurteilsfrei, neugierig (im Sinne von „seinen Horizont erweitern wollen“) und tolerant zu betrachten...