Milena Jesenská

Tiram

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4. November 2014
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"Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe", schrieb Franz Kafka über Milena Jesenská. - Milena Jesenská - Kafka-Freunden wird sie sicherlich zumeist nur als Milena bekannt sein. So ging sie zumindest in die Literaturgeschichte ein. Franz Kafka hat sie mit seinen Liebesbriefen unsterblich gemacht. Doch sie war mehr als nur die Empfängerin hinreißender Liebesbriefe (ihre eigenen Briefe an Kafka sind leider verschollen). „Milena Jesenská war eine begnadete Journalistin, mit einer großen Empathie, (…) ein weiblicher Egon Erwin Kisch“, sagt Milena-Biografin Alena Wagnerova.

Milena Jesenská wuchs in einem Haus an der Grenze zwischen der Prager Alt- und Neustadt, das war damals die Obstgasse 17, als Einzelkind auf. Als sie drei Jahre alt war, bekam sie zwar noch einen Bruder, doch er überlebte nur sechs Monate lang. Sie war in einem Zwiespalt: Alle kümmerten sich nur um das kranke Baby, sie fühlte sich zurückgesetzt und ungeliebt. Als er starb, trauert sie zwar, empfindet aber auch Erleichterung, für die sie sich schämt. Sie wird ihren Bruder nie vergessen, bittet Kafka später, sein Grab zu besuchen. Ihr Vater, der Prager Zahnarzt Jan Jesenský, hatte in diesem Haus auch jahrelang seine Praxis. Um sein Studium zu finanzieren, hatte er sich eine Frau aus reichem Elternhaus gesucht. Er wurde aber durch harte Arbeit ein geschätzter Zahnarzt und geachteter Hochschullehrer. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist nicht leicht. Keine Frage, er liebt Milena über alles, doch die Liebe zu ihr ist sprunghaft und unberechenbar. Sie wird von ihm geschlagen, in den Himmel gehoben, sie soll ein liebes Mädchensein, darf dann aber toben wie ein Junge. Und dabei muss sie sich immer seinen Launen anpassen.

Das war für sie unheimlich schwer. Wie soll sie damit umgehen: Entweder sie zerbricht daran oder sie begehrt auf. Diese Widersprüchlichkeiten werden ihre Spuren bei Milena hinterlassen. Glücklicherweise hatte sie wohl zu ihrer Mutter eine gute Beziehung.

Durch die Freundschaft zu der Hausmeistertochter Marie Bohácová erfährt sie den ersten Einblick in die sozialen Unterschiede, die die Menschen voneinander trennen. Sie besuchte das "Minerva"-Gymnasium, die erste Mädchenmittelschule Mitteleuropas, und pflegte schon in früher Jugend einen demonstrativ zur Schau gestellten Lebensstil mit diversen Eskapaden.

Entgegen bisherigen Annahmen, dass Milena Jesenská erst in Wien zu schreiben begann, tat sie dies schon auf dem Gymnasium. Eigentlich nicht allzu überraschend, gab es doch auf der Seite des Vaters zwei schreibende Frauen - zwei ältere Schwestern von ihm. Marie Jesenská, eine Übersetzerin aus dem Englischen, und die damals sehr geschätzte Schriftstellerin Růžena Jesenská, die Gedichte und Frauenromane schrieb.

1913, Milena ist siebzehn Jahre jung, stirbt ihre Mutter nach längerer Krankheit, während der sie von der Tochter am Nachmittag nach der Schule umsorgt wurde. Der Vater war in der Hinsicht eher empathielos, was ihm Milena bis an ihr Lebensende nicht verzieh. Und wie schon nach dem Tod des Bruders, erlebte sie auch diesmal eher eine Erleichterung. Doch sie trauert auch um den Verlust der Mutter.

Und sie testet ihre Grenzen aus. Gibt es überhaupt welche für sie? Mit ihren Freundinnen missachtet sie die Kleiderregeln, die Regeln, nach denen sich Tschechen und Deutsche in nur für sie bedachte Gegenden aufhalten. Sie gibt das Geld ihres Vaters mit vollen Händen für ihre Freundinnen aus und macht Schulden. Und das so lange, bis ihr Vater eine Anzeige in die Zeitung brachte, dass er für seine Tochter keine Rechnungen mehr bezahlen würde.

Das Verhältnis zum Vater ist auch nach der Reifeprüfung nicht besser geworden. Einerseits verlangt er von ihr das Verhalten einer braven Tochter, andererseits soll sie die Rolle des Stammhalters und Sohnes spielen und beruflich in seine Fußstapfen steigen.

Als sie den deutsch-jüdischen zehn Jahre älteren Bankangestellten Ernst Polak kennenlernt, ist der Vater außer sich. Und als sie schwanger ist, und irgendwie versucht, das Kind abzutreiben und dabei fast verblutet, weist ihr Vater sie in eine Klinik ein. Man attestiert ihr "krankhaftes Fehlen moralischer Begriffe und Gefühle". Und irgendwie bewegt sie sich tatsächlich außerhalb des Legalen: Sie fälscht z. B. Unterschriften auf Wechseln und für ihre Eskapaden muss der Vater aufkommen.

Ernst Polak und Milena heiraten und siedeln nach Wien über. Die beiden sollen zwar gemeinsam gelebt haben, doch er kümmerte sich kaum um sie, ging oft zu einer Geliebten. Währen der Umzug nach Wien für Polak ein Fortschritt war - beruflich wie auch literarisch - musste Milena neu anfangen. Doch sie passt nicht in die Literatenrunde im Central und im Herrenhof.

Die politischen Umwälzungen - mit Ende des Krieges im Jahr 1918 findet auch der Zusammenbruch Österreichs statt - treffen das Ehepaar. Polak weigert sich, seine Frau finanziell zu unterstützen. So arbeitet Milena als Übersetzerin und schleppt Koffer auf den Wiener Bahnhöfen. Ja, sie stahl sogar Geld, um sich hübsche Kleider kaufen zu können.

Milenas Laufbahn als Korrespondentin für die "Prager Tribüne" und die "Nationalblätter" und als Kafkas Übersetzerin begann. Als die Erzählung "Der Heizer" 1920 auf Tschechisch erschien, hat zwischen Autor und Übersetzerin schon ein Briefwechsel begonnen. Dieser begann zwar beruflich, doch wurden die Schreiben bald auch persönlicher. In Kafka fand Milena endlich einen Menschen, der sich um sie sorgte und der sie verstand. Und für Kafka ist sie die erste Frau in seinem Leben, die ihm ebenbürtig ist. Schon aus ihren ersten geschriebenen Artikeln erkennt Kafka ihre Seelen- und Geistesverwandtschaft mit der großen tschechischen Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, Božena Němcová. Ende Juni lernen sich die beiden - obwohl sich Kafka davor zunächst fürchtet - persönlich kennen. Die unbeschwerten vier Tage wirken lange in ihm nach.

Zurück in Prag, löst Kafka seine Verlobung mit Julia Wohryzek. Er möchte mit Milena zusammenleben. Doch diese schafft es nicht, sich von Polak zu trennen. Ein Zusammenleben wäre auch sicherlich nicht einfach. Zu verschieden sind ihre Ansichten in Bezug auf Ehe und Sexualität und das Gesetz.

1925 ließ sich Milena schließlich von ihrem Mann scheiden und zog zurück nach Prag, wo die nun weltgewandt Auftretende von der tschechischen Avantgarde begeistert aufgenommen wurde. Sie wurde Redakteurin bei einer Zeitung. Es folgten glückliche Jahre. Milena schrieb nicht nur, sie war "verantwortliche Redakteurin der Frauenseite von Národni listy. Sie hat nun ein Team von Mitarbeiterinnen, die für sie schreiben oder selbst kleine Rubriken auf der Frauenseite betreuen". In dieser Generation gehören auch zum ersten Mal eine größere Anzahl von Frauen aus der gebildeten Schicht an. Während dieser Zeit weckte ihre Gesellschaftsseite Interesse, die Auflage der Zeitung wuchs.

Milena lernt im Sommer 1926 den Architekten Jaromir Krejcar. In Sachen Sensibilität für die Dinge des Alltags, aber auch in seinem Leichtsinn und den Hang, unüberlegte Entscheidungen zu treffen, stand er Milena nicht nach. Aber Milena war glücklich mit ihm und bald schon kündigte sich das lang ersehnte Kind an. Doch das Glück währt nicht lange. Im vorletzten Monat der Schwangerschaft bricht bei Milena eine Gelenkentzündung aus, die ihr schwer zu schaffen macht. Wegen der geschwollenen Beine, kommt das Kind, ein Mädchen, im August 1928 per Kaiserschnitt zur Welt. Milenas rechtes Bein bleibt steif und sie wird morphiumsüchtig. Der Vater, der von Krejcar gerufen wurde, machte den Vorschlag, das Baby zu sich zu nehmen und aufzuziehen. Doch Milena würde es lieber ertränken.

Allerdings begreift man das volle Ausmaß der Tragödie Milena Jesenkás erst dann, wenn man weiß, daß ihre Gelenkentzündung gonorrhoischen Ursprungs war und es ihr eigener Mann war, der sie infiziert hat.

Ganz langsam kehrt sie ins Leben zurück. Doch ihre Arbeit verliert sie. Ihr Team ist während ihrer Krankheit auseinandergebrochen.

Milena wurde politisch tätig. Sie gehörte bislang der linken Avantgarde an, doch das Einschwenken der Kommunistischen Partei auf den Moskauer Kurs wird schwierig für sie: eigenes Denken war dort unerwünscht. Jaromir Krejcar geht als Architekt in die Sowjetunion. Milena bleibt mit der Tochter, was praktisch das Ende der Ehe bedeutete. Sie muss mit Tochter Honza das große Haus verkaufen und in eine kleine Wohnung ziehen. Was sie nicht für möglich hielt, trat noch ein: Hinkend und süchtig erweckt sie noch die Liebe und Achtung eines Mannes: Evzen Klinger. Das Verhältnis zum Vater verschärft sich wieder: Seine Tochter arbeitet für die Kommunistische Partei und lebt mit einem Juden zusammen - er verbietet ihr das Haus. Als Milena von der Kommunistischen Partei aufgefordert wird, sich von Evzen Klinger zu trennen, geht ihr das zu weit. Sie verlässt die Partei und erlebt eine Zeit "extremer existenzieller Not und einer tiefen persönlichen Krise".

Glücklicherweise hat sie Freunde, die ihr helfen. Jemand besorgt ihr mal eine Arbeit, bei der sie unter Pseudonym schreiben kann, andere geben Geld, ja selbst vom Vater kommt wöchentlich ein Scheck, wenn die Enkeltochter bei ihm zu Besuch war. Reichen tut es trotzdem vorne und hinten nicht. Nicht nur, dass Milena immer noch nicht wirtschaften kann, nein, sie hilft damit auch gleich wieder anderen, die noch ärger dran sind als sie. Und als ob sie geahnt hätte, dass sie sich in naher Zukunft ihre Sucht in keiner Weise leisten kann, ging sie im Februar 1937 in eine Klinik zu einer Entziehungskur, die sie nach zehn Tagen geheilt verließ.

Endlich erfüllte sich auch ein Wunsch Milenas: 1937 bekommt sie eine feste Stelle bei der Wochenzeitschrift Pritomnost (Gegenwart), wo sie aktuelle politische, gründlich recherchierte Reportagen schreiben darf. Endlich ist sie das "Plappern über die Mode" los.

1939, als erst Prag und dann der Rest der Tschechoslowakei von der deutschen Wehrmacht besetzt war, wurde Milena zur Widerstandskämpferin und Fluchthelferin (für ihren Einsatz als Fluchthelferin wurde sie in Israel als "Gerechte der Nationen" ausgezeichnet.) Mit Unterstützung von Joachim von Zedtwitz, einem Adligen aus Westböhmen, der einen Wagen hat und bereit ist, die Flüchtlinge, die sich in Milenas Wohnung sammeln, an die polnische Grenze zu bringen, wo ihnen weitergeholfen werden soll.

Noch im selben Jahr wird Milena von der Gestapo verhaftet und Ende Oktober 1940 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Und auch hier half Milena anderen Menschen und kam den Neuankömmlingen mit menschlicher Wärme entgegen. Milena plante, ein Buch über das KZ zu schreiben. Einer Freundin vertraute sie ein Notizbuch an, doch diese verlor es im Chaos nach der Befreiung.

An Schriftlichem aus dem KZ sind von Milena nur "Briefe an den Vater und die Tochter übriggeblieben, und das Märchen 'Die Prinzessin und der Tintenklecks', das man nach ihre Tode auf einem vergilbten Zettel in ihrem Schreibtisch im Krankenrevier gefunden hat".

Ein Versuch von ihrem Fluchthelfer Joachim von Zedtwitz, ihre Befreiung aus dem KZ zu erreichen, scheitert schon bei den Vorbereitungen.

Milena Jesenká starb am 17. Mai 1944 an den Folgen einer Nierenoperation.

Quelle:
Buchinformationen und Rezensionen zu Milena Jesenská: Biographie von Alena Wagnerová
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