Lesezeit mit drei Romanen

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Hi people,
was in eurer Lesezeit los ist, teilt ihr normalerweise im Lesemontag mit. Dennoch denke ich heute hier über die Romane nach, die ich mehr oder weniger gleichzeitig lese. Was haben wir? Einen umfassenden tiefsinnigen und waghalsigen Roman über China, eine Liebesgeschichte, die mehr ist als nur das, weil sie nämlich gar keine Liebesgeschichte ist, ein Roman der gescheitert ist und ich frage mich, warum um Himmels Willen ist das passiert und einen Roman eines der wenigen begnadeten Erzähler dieses und des letzten Jahrhunderts.

Das erste ist- ihr wisst es:
Ich weiß einfach nicht, was ich von diesem Roman halten soll. Eigentlich ist es gar kein Roman, denn die Handlung dieses mehr als 800 Seiten langen Werks ist wahrlich spärlich. Es ist ein Buch der Gedanken und ein Buch über Diktaturen. Es ist ein großartiges Gedankenwerk. Philosphisch. Oder ist es ein Flickenteppich?

Wir sind in China, Peking, oder in Prag. Allerdings bewegen wir uns immer in der Oberschicht. In privilegierten Sphären. Das macht es schwer, finde ich, das Buch sofort zu goutieren. China. Eine tschechische Schriftstellerin (S) befindet sich im Land, wird von chinesischer Seite "betreut" und wird auf allerhand Empfänge eingeladen. Einmal macht sie auch eine Überlandfahrt. Aber so richtig in Beziehung mit den Chinesen, den Normalos, kommt sie nicht. Das ist unerwünscht. Man hat viele kurze Hauptsätze. Und ganz viele Essays. Die S verschwimmt mit der A (Autorin). Mehr als eine Stunde am Stück kann ich das Werk nicht aushalten, die Schreibweise ist zu monoton, um mich länger am Buch zu halten. Dennoch: auf irgendeine Weise ist es genial. S redet und denkt über alles nach. Das sind manchmal 5 Sätze und manchmal 5 Seiten. Die Protagonisten bleiben bis auf wenige Ausnahmen namenlos. Eine Annäherung an diese ist nicht gewünscht. Sie müssen Hüllen bleiben, die mit Jedermann gefüllt werden können.
Ich frage mich, was soll das? Wir wissen alle, was eine Diktatur ist. Und wie es läuft, auch. Hm. Hm. Und nochmals hm.

Dazu, zur Entschleunigung und Entspannug habe ich den wilden Roman
gelesen. "Brick Lane", sagt eine Lesefreundin, ein früherer Roman von ihr, sei ganz toll gewesen. (Ich bezweifle es). "Liebesheirat" hat für einen Roman in der Unterhaltungssparte viele interessante Themen. Es gibt zum Beispiel eine Emanzipationsgeschichte. Wir haben eine wilde und blutige Liebesnacht. Die wohl schocken soll. Der Roman "Liebesheirat" hat eigentlich alles, was ein großer Roman bräuchte. Eine Handlung, die nach vorne strebt. Interessante Charaktere. Die Themen Emanzipation, Integration, Kulturen, die sich treffen. Aber was macht die Autorin daraus? Eine Krankenhausserie? "Ich glaub, mich trifft der Schlag" als wir im Krankenhaus sind und sich EmergencyRoom öffnet. Gut, es waren keine Notfälle. Aber trotzdem. Vorabendserie? Und die Charaktere werden nicht entwickelt. Sie verwirren mich mit ihren Handlungen. Gedanken haben sie leider fast gar keine. Sie machen und reden. Verschenkt.
Am Schlimmsten sind die langwierigen Beschreibungen, die das Buch hochschreiben sollen, aber zumindest bei mir, das Gegenteil bewirken. Sie haben nämlich gar nichts mit der Handlung zu tun. Aber auch gar nichts. Zu Gute halten wir dem Buch, dass es nicht süßlich ist; es hat andere Schwächen.

"Liebesheirat" hat das Pech, dass ich auf meinen Spaziergängen "Vernichten" höre. Hm. Wie macht der Autor es, dass ich gleich sehe, dass sein Buch ein großartiges ist und dass Alis Buch kein großartiges ist? Houellebecq hat sich eigentlich viel weniger Handlungsspielraum gegeben.
Buchinformationen und Rezensionen zu Vernichten: Roman von Michel Houellebecq
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Wir haben eine einzige erzählende Figur und nicht mehrere wie bei "Liebesheirat". Das ist Paul. Er ist persönlicher Assistent von Bruno, einem Minister (oder Vizekanzler, no idea), der entweder selber Präsidentschaftskandidat werden wird oder ein Kollege von ihm. Ich wills nicht verraten, wer aufgestellt wird. Jedenfalls befinden wir uns kurz vor dem Wahlkampf. Der regierende Präsident tritt nicht mehr an. Was stört und beunruhigt, sind seltsame bedrohliche Videos, die im Netz auftauchen und deren Verursacher nicht ermittelt werden können. Das ist die Rahmenhandlung. Innerhalb der Rahmenhandlung finden wir, wie ich interpretiere, eine Liebeserklärung an Frankreich. Landschaft, Familie, Gedanken. Nicht zu allem wie bei "Stunden aus Blei", aber zu vielem. Vllt mag ich das einfach, wenn man über Dinge nachdenkt. Andere langweilen solche Exkurse vielleicht. Tscha. Wer weiß.
Ich habe etwas weniger als die Hälfte gelesen. Als ich gestern darüber nachsann, was wohl die ganzen Träume zu bedeuten haben, die Paul träumt (ich verabscheue Träume in Büchern), die jeweils ein Element Horror und ein Element dezenten Eros beinhalten (dezent und Houellebecq, das sollte sich eigentlich ausschließen) - da fiel es mir wie Schuppen vor den Augen.
So - und jetzt hört weg: ich sage euch, wie das Buch enden wird nach meinen Überlegungen ohne es fertig gelesen zu haben.
Meine These. Paul liegt im Sterben. Er hat Flashbacks. Dazu gehören auch die komischen Träume. Aber auch der Rest, seine Arbeit, seine Familie, sein Alles. Was ist passiert? Es muss ein Attentat gegeben haben. Bei der Wahl? Einen Anschlag auf den Präsidenten. oder so. Das würde auch den Titel erklären.

Also das lese ich alles. Was ich damit sagen will, man kann Romane durchaus vergleichen. Man erkennt ihre Qualität sogar (oft) nur im Vergleich. Ein großartiger Erzähler (was immer man über M.H. denken mag, das ist er, ein begnadeter Erzähler) hat Humor, Eleganz und lässt einen Text leuchten, selbst wenn er nur über etwas ganz Banales spricht. Und alles, was er schreibt, hat eine Bedeutung. Wie machen sie es nur, die begnadeten Erzähler.
Wisst ihr es?

Eure nachdenkliche Donnerstagswanda
 

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1. Stunden aus Blei
Das wartet hier auch auf mich. Ich habe noch nicht rein gelesen, fand aber, dass es sehr vielversprechend klingt. Ich lese ja immer wieder gerne u.a. asiatische Autoren und bin sehr gespannt.
2. Monica Ali
Das klingt von der Thematik her interessant, ich weiß aber noch nicht, ob ich es mir anschauen werde. Brick Lane habe ich damals abgebrochen...
3. Houellebecq
An diesen Autoren wag ich mich irgendwie nicht so recht ran, obwohl ich schon seit Ewigkeiten ein bissel was von ihm hier habe. Bisher rufen mich seine Bücher nicht so...
 

Wandablue

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"Unterwerfung" von Houllebecq fand ich auch gut und leicht zu lesen. Auch "Vernichten" ist leicht zu lesen. "Serotonin" aber hab ich aus Langeweile dahingegeben. Frühere Romane von ihm kenne ich (noch) nicht.
Was liegt denn auf dem SuB bereit?
 
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"Unterwerfung" von Houllebecq fand ich auch gut und leicht zu lesen. Auch "Vernichten" ist leicht zu lesen. "Serotonin" aber hab ich aus Langeweile dahingegeben. Frühere Romane von ihm kenne ich (noch) nicht.
Was liegt denn auf dem SuB bereit?

Buchinformationen und Rezensionen zu Elementarteilchen von Michel Houellebecq
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Ausweitung der kampfzone
Buchinformationen und Rezensionen zu Ausweitung der Kampfzone von Michel Houellebecq
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Irgendwann sind sie auch dran, diese Bücher...
 
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Emswashed

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9. Mai 2020
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Noch vor ein paar Jahren habe ich immer mehrere Bücher zur gleichen Zeit gelesen. Entweder waren sie grundverschieden, oder sie haben sich aufeinander bezogen. Miteinander habe ich sie selten verglichen, vielleicht manchmal in meinen Tagebucheinträgen zusammen erwähnt, weil sie gleiche Zeiträume, oder das gleiche Thema betrafen. Allerdings kam ich auch nicht in die Verlegenheit, sie gegeneinander abzuwägen - es gab keine Sternchen und nur meine persönlichen Vorlieben zählten.

Mit den punktebehafteten, oder vom Verlag begutachteten Rezensionen beschränkte ich mich dann mehr oder weniger immer nur auf ein Buch. Zwar konnte ich mich dann besser auf das jeweilige Buch konzentrieren, aber übergreifende Gedanken nahmen ab. Das schaffe ich nur im privaten Bereich, zum Einen, weil ich kein Fachmann bin und zum Anderen, weil es selten Mitleser gibt, die auch alle von mir erwähnten Bücher gelesen haben.

So ergeht es mir im Moment mit Dir, liebe @Wandablue. Bis auf Vernichten kenne ich die Bücher nicht und selbst das Genannte habe ich noch nicht gelesen. Ich höre gern diesen "Plaudereien" zu, aber wirklich fundamental Neues kann ich dazu nicht beitragen.

Nur vielleicht soweit, dass ich durchaus solchen "Clashes" etwas abgewinnen kann und mich dann auch verleiten lasse. So geschehen im Buch


bei dem ich gleich ein von Gaiman besprochenes Buch bestellte und verschenkte.
 

Wandablue

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Jajaja, Emsi, du sollst gar nichts zu meiner Lektüre diskussionsmässig betragen (kann nicht muss) sondern mir erzählen, welche Autoren du für begnadete Erzähler hältst und warum. Günter Grassi etwa? Was macht den einen genial und den anderen nur durchschnittlich?
 

Emswashed

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Ach so! Also Houellebecq halte ich nicht für einen begnadeten Erzähler, er lockt eher mit Provokationen und (zumindest früher) einer ordentlichen Portion Sex.

Und ja, Grass und auch Eco hielt ich für begnadete Erzähler. Sie durften sich bei mir zuerst vorstellen und unterschieden sich doch wohltuend von der Edgar-Wallace-Jubiläumsausgabe. Sie waren anders, aufregend und neu für mich. Inzwischen bevorzuge ich einen Lewinsky, oder eine Haratischwili. Ich will meine alten Lieblinge aber nicht vergessen, doch je mehr neue Schriftsteller ich kennenlerne, umso mehr verschieben sich meine Ansprüche.

Genial ist jeder, der seinen ganz eigenen Stil findet und den man vielleicht auch ohne Nennung des Autors herauslesen könnte. Natürlich müssen sie einem dann noch gefallen.

In Landschaften eintauchen? Unbedingt, aber es muss stimmen und zur richtigen Atmosphäre im Buch beitragen und kein offensichtliches Seitenfüllen sein. Also, wenn draußen vor der Türschwelle gleiche die schroffen Gebirgsfelsen anfangen, möchte ich eine Protagonistin, die ihre Blasen an den Füßen überklebt und ächzend in die ungewohnt, klobigen Bergstiefel steigt und nicht "rausgeht und die tolle Aussicht genießt".

Hmm, ich muss mich noch ins Thema einarbeiten.
 

Emswashed

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Lem, zum Beispiel, ist kein begnadeter Erzähler, aber er hatte interessante Gedanken und lebte hinter dem Ost-West-Vorhang. Dem entsprechen seine SF-Gesellschaften eben ganz anderen Vorgaben wie die eines Dick und so haben es beide zu einem eigenen Regalbrett bei mir geschafft.
T.C. Boyle erklärt sein Amerika, Uwe Timm unser Deutschland, Pratchett seine Scheibenwelt... alle genial. Warum? Hmm, weil sie mich beim lesen von ihrer Welt überzeugen? Ja, ich denke, Glaubwürdigkeit ist hier wohl das Stichwort. Das war auch wohl der Punkt, bei dem

Buchinformationen und Rezensionen zu Unser Glück: Roman von Natalie Buchholz
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bei mir gescheitert ist. Erst entführt sie in ein kurioses Szenario, um am Ende doch wieder im stinknormalen Alltag zu landen. Beides zusammen ist nicht glaubwürdig, nicht stimmig. (Da läuft jemand mit Pumps ins Gebirge und genießt die Aussicht - so als Vergleich.)
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Wie machen sie es nur, die begnadeten Erzähler.
Wisst ihr es?
Leider nicht. Wüsste ich es, wäre ich vielleicht auch einer geworden.

Hinsichtlich der Definition eines "begnadeten Erzählers" merke ich mittlerweile immer stärker, dass es vor allem Form und Stil sind, die mich begeistern. Dann stört es mich nicht einmal, wenn der Inhalt nicht zu 100 Prozent mithalten kann oder nicht alle Figuren die nötige Tiefe aufweisen. Ein Beispiel für letzteres war für mich:

Buchinformationen und Rezensionen zu Wir sind das Licht: Roman von Gerda Blees
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Ich konnte nicht jede Wendung der Figuren verstehen, dennoch fand ich den Stil umwerfend originell.

Ein Beispiel, bei dem für mich wirklich alles zusammenpasste, war:

Buchinformationen und Rezensionen zu Das Versprechen von Damon Galgut
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In meiner inoffiziellen Liste "Lieblingsbuch des Jahres 2022" liegt es derzeit vorn, und es ist wohl auch das Buch, an das ich noch am stärksten zurückdenke.

Da ich von beiden Autor:innen aber jeweils nur ein Buch kenne, weiß ich nicht, ob sie für mich generell in die Gattung "begnadete Erzähler:innen" fallen.

Deswegen möchte ich noch zwei weitere Autoren aufführen: Clemens J. Setz und Gert Loschütz - vom ersten habe ich fast alle Bücher gelesen, vom zweiten immerhin zwei, deswegen erlaube ich mir schon einmal dieses Urteil.

Loschütz hat einen so eigenen Erzählton, dass er mich praktisch von Seite eins an mitten ins Herz trifft. Doch siehe oben: Warum dem so ist, kann ich gar nicht genau sagen. Fast jeder Satz strahlt eine so große Melancholie aus, dass ich bei der Lektüre der Romane gar nicht so richtig weiß, wo ich hin soll mit all diesen Emotionen.

Clemens J. Setz hingegen ist für mich die Krone der Individualität, der kreativste Kopf unter der Sonne, ein Genie. Seine Werke platzen fast vor Ideen, und ich warte sehnsüchtig auf einen neuen Roman. Setz ist für mich einer der Hauptgründe, warum ich die Literatur liebe. Auch er hat etwas ganz Eigenes, Unverkennbares, eine Prise Humor, eine gehörige Portion Skurrilität - doch immer auch eine gewisse Zerbrechlichkeit.
 

Literaturhexle

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Ich habe keinen Erzähler, von dem ich alles gelesen habe oder ich alles lesen müsste. Es kommt immer darauf an. Graham Swift hat mich zweimal sehr begeistert. Der Titel, mit dem er den Bookerpreis gewann, steht hier noch (Letzte Runde):


Ian McEwan, Donna Tartt, Bernhard Schlink (Ausnahme Enkelin), Benedict Wells, Daniela Krien, Gert Loschütz, Eva Menasse, Jenny Erpenbeck, Richard Russo, Kent Haruf, Damon Galgut, ...
Es gibt zahlreiche Autoren, die mich in den letzten Jahren begeistert haben. Ob mir ein Stil zusagt, weiß ich nach den ersten Seiten. Manches geht gar nicht. So erging es mir bei dem Debüt von Yade Yasemin Önder. Die Leseprobe war für mich abschreckend.
Die oben genannte Gerda Blees war mit ihrem Debüt auch innovativ und modern, aber eben anders. Sie hatte mich sofort am Haken!
Ein guter Stil kann mich auch über Schwächen im Plot hinwegtragen. Ich bin bereit, für eine schöne Sprache zu verzeihen;)
Allerdings kann auch die schönste Sprache einen unstimmigen, schwachen Plot nicht heilen. Ich möchte schon auch, dass inhaltlich etwas erzählt wird.

Es gibt auch viele Klassiker, die mich begeistert haben. Tolstoi mit seiner Anna Karenina. Dahingegen waren seine Betrachtungen aus dem Untergrund (hoppla: war Dostojewski) zwar schön erzählt, aber inhaltlich sehr speziell. Jane Austen ist immer wieder nett. Da hebt der Stil auch den Inhalt.

Brüche nehme ich übel. Wenn ein Buch gut anfängt (In die Arme der Flut, Der Ausflug), um danach völlig ins Unglaubwürdige, Skurrile abzudrehen. Kommt selten vor, aber dieser Tage gleich zweimal.

An deinen Houllebeqc traue ich mich nicht heran. Er ist mir zuviel Revoluzzer, zu politisch. Du bist die erste in meinem Lesezirkel, die lobende Worte für ihn erübrigt (was bei Wanda etwas heißen will!). Nee, da warte ich noch.
 

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