Künstliche Intelligenz

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
querleserin.blogspot.com
Der Ich-Erzähler, Informatiker, der ein staatliches Institut in der ehemaligen DDR geleitet hat, führt zunächst seine Gedanken zum Thema Abschied nehmen, wenn jemand gestorben ist, aus - die allgemeinen Gedanken bieten insofern einen perfekten Einstieg und den Erzählband. Von Menschen, die man nicht so oft trifft, Falle der Abschied schwerer, dazu zählt auch sein Freund Andreas, der ebenso wie er selbst als Informatiker am gleichen Institut gearbeitet hat. Stutzig gemacht haben mich die Gedanken zu Andreas Tod:
[zitat]auch mit ihm blieb ich im Zwiegespräch, als gelte es, nur eine Weile zu überbrücken, bis wir uns wiedersähen. Und während ich, als Andreas lebte, Angst hatte, unsere Freundschaft könnte plötzlich einer Belastung ausgesetzt werden, war das Zwiegespräch mit dem toten Andreas angstfrei.[/zitat]
Welches Geheimnis birgt der Ich-Erzähler? Schlank deckt ganz geschickt Schritt für Schritt das Ausmaß des Verrats dar. Zunächst erfahren wir, dass Andreas Tochter Akteneinsicht in seine Stasiakte haben möchte. Da hat man schon den Verdacht, der Ich-Erzähler habe seinen Freund bespitzelt, doch die Wahrheit ist, er hat dessen Fluchtversuch verraten, so dass Andreas ins Gefängnis musste.
Permanent rechtfertigt der Ich-Erzähler sein Verhalten, er habe es für Andreas getan, der im Westen nicht glücklich geworden wäre. So konnten beide zusammen arbeiten, er habe ihm einen Gefallen getan.
Dieser subjektiven Wahrnehmung stellt der Ich-Erzähler eine andere Sicht gegenüber, indem er sich vorstellt, wie Lena auf die Akten, in die sie letztlich trotz eines vorherigen Versprechens Einsicht nimmt, reagieren wird. Ihre Reaktion kann ich gut nachvollziehen, sie entspricht meiner Empörung beim Lesen.
In einem fiktiven Zweigespräch mit Andreas verabschiedet er sich in Frieden von seinem Freund, der ihm verzeihen wird, da sie auch gute Jahre hatten.
Der Ich-Erzähler ist bis zum Schluss überzeugt das Richtige getan zu haben - für sich das Richtige, denn sein Verrat Andreas Leben entscheidend verändert und beeinflusst. Für mich ist dieser Verrat ungeheuerlich, der Ich-Erzähler opportunistisch und egoistisch, der Andreas ausgenutzt hat, obwohl er es dementiert. Meines Erachtens ist er unzuverlässig in seinen Aussagen und will sein Verhalten rechtfertigen.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Mir gingen ähnlich wie @Querleserin erboste Gedanken durch den Kopf. Wie kann man seine Fehler auf so eine Art und Weise schönreden? Die Gedanken zu Beginn haben mir gut gefallen, die Beschreibung des Abschieds, der in Dauer und Intesität nicht immer gleich sind, stimmten mich erst sehr positiv auf den Erzähler ein, doch dies ändert sich drastisch, als klar wird, von welchem Verrät an Andreas er hier spricht.
Schade ist aber, dass wir nicht erfahren, was tatsächlich in den Akten gestanden hat. Am Verrät selbst ändert es zwar nichts, dennoch besteht die Möglichkeit, dass es nie bekannt geworden ist, dass er derjenige war, der seinen besten Freund verraten hat
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Am Verrät selbst ändert es zwar nichts, dennoch besteht die Möglichkeit, dass es nie bekannt geworden ist, dass er derjenige war, der seinen besten Freund verraten hat
Das erfahren wir tatsächlich nicht. Mir ist bei der Durchsicht der letzten Seiten der Geschichte noch aufgefallen, dass der Ich-Erzähler keinerlei Reue zeigt, aus seiner Perspektive hat er alles richtig gemacht - wie vermessen!
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Abschiednehmen wird hier vom Ich-Erzähler quasi gleichgesetzt Mit „Mit-jemandem-ins-Reine-kommen“. Und dabei macht er es sich wirklich allzu einfach. Der Ich-Erzähler hat seinem verstorbenen Freund Andreas dessen Leben vielleicht nicht regelrecht „versaut“, aber er hat es durch seine Denunziation bei der Stasi doch in Bahnen gelenkt, in die Andreas selber es nicht lenken wollte. Er hatte für sich eine ganz andere Lebensbahn geplant, die ihm der Freund aber durch sein Handeln komplett verbaut hat. Nie hat ein klärendes Gespräch stattgefunden. Nie hat der Erzähler Andreas seinen Verrat gebeichtet. Nun tut er es in einem stillen Selbstgespräch, in dem der tote Andreas verständlicherweise keinerlei Chance auf Argumentation und Darlegung seiner Sicht mehr hat. Und damit will der Erzähler dieses Kapitel tatsächlich als beendet ansehen und den Abschied bewältigt haben.
Da belügt es sich doch aber nur selber. Und räumt nicht auf mit der Missetat der Vergangenheit, sondern erweist sich nur als wirklicher A...., oder? Kann er damit Lena wirklich wieder in die Augen sehen? Ich fürchte, ja, er kann es und wird mit sich hochzufrieden sein!
Hier gleich zu Beginn des Erzählbandes von Schlink also ein sehr provozierendes Stück über das Abschiednehmen, das Lust auf mehr macht.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Welches Geheimnis birgt der Ich-Erzähler? Schlank deckt ganz geschickt Schritt für Schritt das Ausmaß des Verrats dar
Das tut er wirklich! Als Leser wird man sofort hellhörig. Immer mehr Hinweise werden gelegt, bis das Ausmaß der Tat klar ist.
Permanent rechtfertigt der Ich-Erzähler sein Verhalten, er habe es für Andreas getan,
Diese Dreistheit sucht ihresgleichen! Der Erzähler macht sich die Rede recht, redet schön, was kaum schönzureden ist. Fast väterlich versucht er, die markante, zerstörerische Einflussnahme auf Andreas' Leben zu rechtfertigen.

Doch : Der getroffene Hund bellt! Schön zu Andreas Lebzeiten hätte der Erzähler gerne Absolution gehabt. Oft hat er Gespräche im Geiste geführt... Tief im Innern erkennt er den Vertrauensbruch an, sonst hätte er nicht das Bedürfnis, alles ins "rechte" Licht zu rücken.
dass der Ich-Erzähler keinerlei Reue zeigt, aus seiner Perspektive hat er alles richtig gemacht - wie vermessen!
Das ist m. E. nur vordergründig. Mit reinem Gewissen, hätte er die Tat längst vergessen. Er versucht, sein schlechtes Gewissen mit rationalen Argumenten niederzudrücken.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Lena ist doch eine ganz Clevere. Ich denke, sie hat das genau so eingefädelt.Als Tochter hätte sie keine Akteneinsicht in dle Akte desverstorbenen Vaters (und schon gar nicht in die des Erzählers) erhalten. Wohl aber, wenn sie sich "geschäftlich " mit den Projekten der ehemaligen DDR beschäftigt... Das hat sie gewusst. Das ist kein Zufall! Vielleicht war Andreas gar nicht so naiv und hatte den Freund im Verdacht, scheute aber die Aufdeckung und Enttäuschung...?
Auf alle Fälle will Lena dem auf den Grund gehen. Clever!
Man hat kein Mitleid mit dem Erzähler. Es geschieht ihm ja recht, sich endlich rechtfertigen und sich seiner Taten stellen zu müssen.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Er versucht, sein schlechtes Gewissen mit rationalen Argumenten niederzudrücken.
Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich ein schlechtes Gewissen hat. Denn er nimmt endgültig Abschied von Andreas und „wie die Erinnerung an meine Kindheit wird auch die an unsere Freundschaft in meine alten Tage scheinen.“ (29) Er zeigt keine Reue, weiß, dass Lena, die ich auch für sehr clever halte, erwarten würde, „dass ich vor Schuld und Scham zusammenbreche und sie um Vergebung bitte.“ (27) Aber fühlt er das?
Ich denke, dass er eher Angst hatte, dass sein Verrat Zu Lebzeiten Andreas entdeckt wird, daher ist die Freundschaft nach dessen Tod auch angstfrei. Er fühlt sich mit dem, was er getan hat, im Recht.
 

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Eine beeindruckende Geschichte, scheinbar leichtfüßig im Plauderton daherkommend und doch von einem ungeheueren Verrat erzählend. Ein Verrat angeblich zum Besten des Freundes, die daraufhin gescheiterte Karriere des begabten Mathematikers schöngeredet, da ihm Führungsposten wohl sowieso nicht gelegen hätten... Unter dem Deckmantel des Freundschaft Verrat, Feigheit, Intrigen und ein Ausnutzen zugunsten der eigenen Karriere. Muss man sich das nicht schönreden, weil man ansonsten selbst im Grunde nicht weiterleben könnte? Eine eigene Wahrheit kreiieren, weil die Wahrheit der anderen unerträglich wäre? Spannend geht dieser Erzählband los...
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Da ist man mal tagsüber nicht online und schon geht hier die Post ab.
Eigentlich wurde hier zur ersten Geschichte schon alles gesagt.
Nach den ersten drei Seiten war ich noch ganz angetan von dem Ich- Erzähler: kluge Gedanken übers Sterben und Abschied nehmen, dann aber wird er immer unsympathischer. Gut, er räumt ein, dass es etwas gab, wofür er sich schämen müsste, nimmt das aber im gleichen Satz wieder zurück, relativiert es als verständliches menschliches Verhalten. Von Reue spüre ich nichts. Der lügt sich doch selbst was in die Tasche, von wegen nur gut gemeint und für den Freund war es so doch viel besser usw.
Sogar nach der Wende geht es dem Ich- Erzähler besser. Er macht eine neue Karriere im Westen und wie gern hätte er da den Freund mitgenommen.“Aber der brutale kapitalistische Wettbewerb wäre nichts für ihn gewesen.“
Wie hat er es nur geschafft, dass ihm Lena oder auch sein Freund nicht schon früher auf die Schliche kamen?
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich habe mittlerweile fünf Geschichten aus dem Band gelesen und halte die erste für die beste.
 

Bibliomarie

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Ganz leise beginnt diese Geschichte mit Gedanken über den Tod und das Abschiednehmen. Das gefiel mir und ich fand gerade bei seinen Reflexionen über den Trauerprozess vieles, was ich ähnlich erlebte. Doch ganz allmählich ändert sich der Ton, er wird immer mehr zur Rechtfertigung.

Er hat seinen Freund verraten, angeblich zu seinem Besten, hat ihn nach der Haft nicht fallengelassen und redet sich immer wieder ein, richtig gehandelt zu haben. Selbst die Verzeihung des Freundes setzt er voraus. Welche Anmaßung!!

Er weiß aber auch, dass sich Lena nicht bremsen lassen wird, auch nicht durch seine Bitten. Geschickt wie sie an die Stasiakten des Vaters kommt und klar, dass sie ihn damit konfrontieren wird. Auch interessant, wie er sie zunehmend als verbittert und griesgrämig beschreibt.

Er hat sich seine Weltsicht zurecht gebogen und seine unerträgliche Arroganz gipfelt in dem Satz: “Aber der brutale kapitalistische Wettbewerb wäre nichts für ihn gewesen.“

Eine beeindruckende Geschichte.
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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er Ich-Erzähler ist bis zum Schluss überzeugt das Richtige getan zu haben - für sich das Richtige, denn sein Verrat Andreas Leben entscheidend verändert und beeinflusst. Für mich ist dieser Verrat ungeheuerlich, der Ich-Erzähler opportunistisch und egoistisch, der Andreas ausgenutzt hat, obwohl er es dementiert. Meines Erachtens ist er unzuverlässig in seinen Aussagen und will sein Verhalten rechtfertigen.

Es ist eine permanente Rechtfertigung seiner Tat, deren Auswirkungen er genau kannte.
 

Bibliomarie

Bekanntes Mitglied
10. September 2015
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Schön zu Andreas Lebzeiten hätte der Erzähler gerne Absolution gehabt. Oft hat er Gespräche im Geiste geführt... Tief im Innern erkennt er den Vertrauensbruch an, sonst hätte er nicht das Bedürfnis, alles ins "rechte" Licht zu rücken.

Aber ich halte es für bemerkenswert, dass er diese Gespräche nur im Geist geführt hat. Denn trotz seiner ständigen Beteuerungen, Andreas hätte ihn verstanden, weiß er doch wohl selbst, dass das nicht so gewesen wäre.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Das gefiel mir und ich fand gerade bei seinen Reflexionen über den Trauerprozess vieles, was ich ähnlich erlebte. Doch ganz allmählich ändert sich der Ton, er wird immer mehr zur Rechtfertigung.
Diese leisen Gedanken haben mir auch sehr gut gefallen, sie bringen etwas zum Schwingen.
Ganz spannend, wie die Stimmung kippt!