Heimkehr (S. 121 - 135)

Querleserin

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Auch das ist, wie die letzte Erzählung eine zutiefst deprimierende.
Ein junger Mann wird aus der Haft entlassen und kehrt „nach Hause“ zurück. Sukzessive erfahren wir von seiner schwierigen Kindheit - ausgegrenzt wegen seiner Daumenlutscherei, von den Eltern kaum geliebt, die Mutter depressiv, die zudem die kleine Schwester bevorzugt. Ab und zu bricht er aus, wird gewalttätig, schlägt zurück, wenn die verbalen Beschimpfungen kein Ende nehmen. Er wäre gerne ein Mädchen, da er sich nach der Liebe der Mutter sehnt, die ihn auch wegen seiner Daumenlutscherei von sich stößt. Auch zum Vater findet er keinen Zugang.
In dieser für ihn „lebensfeindlichen, kalten“ Umgebung, die noch von der dunklen Wohnsituation gespiegelt wird, begeht er einen grausamen Doppelmord und tötet die Freundinnen seiner Schwester auf furchtbare Art und Weise.
Er kehrt nach der Gefängnisstrafe nach Hause zurück, wobei die Fabrik, in dessen Innenhof das Elternhaus steht, längst geschlossen und die Familie weggezogen ist. Keiner, der ihn empfängt, ihn erwartet, so zieht er sich in den dunklen Schuppen, an den Tatort zurück.
Die Geschichte ist die negative Umkehr des Gleichnisses vom verlorenen Sohn und erinnert gleichzeitig an Kafkas Parabel „Heimkehr“, ein intertextueller Bezug, der sicherlich von Krien intendiert ist. In der Parabel wagt sich der Heimkehrer nicht ins Haus, da er sich fremd, ausgeschlossen fühlt - so wie der Junge bevor seiner Tat, wobei diese in keinster Weise zu rechtfertigen ist.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Geschichte ist die negative Umkehr des Gleichnisses vom verlorenen Sohn und erinnert gleichzeitig an Kafkas Parabel „Heimkehr“, ein intertextueller Bezug, der sicherlich von Krien intendiert ist. In der Parabel wagt sich der Heimkehrer nicht ins Haus, da er sich fremd, ausgeschlossen fühlt - so wie der Junge bevor seiner Tat, wobei diese in keinster Weise zu rechtfertigen ist.
Wie gut, dass du hier mitdiskutierst und diesen Bezug herstellen kannst, der bestimmt gewollt ist.

Ich bin wirklich begeistert von Kriens Art zu schreiben. Ganz nüchtern und dennoch kann man intensiv miterleben. Seltsam, dass man keinen Hass für den Täter empfindet. Es ist ja sofort klar, dass er bei 15 Jahren Haftstrafe einen Mord begangen haben muss. Klar war nur nicht, an wem.

Der Täter wird uns eben auch als Opfer präsentiert. In seiner Kindheit wurde er geschlagen, gemobbt und ausgegrenzt. Sein Daumen war sein Trost und Ursache des Spotts. Das tut weh!
Auch die Episode mit den Kätzchen... Ohne Worte. Ein dermaßen gepeinigtes Kind muss sich ja abseitig des Normalen entwickeln. Es wird gewalttätig. Gewalt als Ventil zum Dampfablassen.

Auch diese Geschichte könnte überall stattfinden. Es muss nicht das Muldental sein. Solche Familienkonstellationen gibt es überall, wo Perspektivenlosigkeit um sich greift.

Wie viele Tiefpunkte hält das schmale Buch noch für uns bereit?
 

Querleserin

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Auch diese Geschichte könnte überall stattfinden. Es muss nicht das Muldental sein. Solche Familienkonstellationen gibt es überall, wo Perspektivenlosigkeit um sich greift.

Wie viele Tiefpunkte hält das schmale Buch noch für uns bereit?

Ich sehe das auch so, diese Geschichte könnte überall spielen. Der Autorin gelingt es tatsächlich, dass wir selbst niemanden sofort verurteilen, dass wir zumindest Mitleid mit dem Mörder haben, wegen seiner Vergangenheit. Nichtsdestotrotz habe ich bei der Andeutung, was er getan hat, kurz Luft gezogen. An dem Punkt endet das Verständnis.
 

kingofmusic

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Das Buch kann einen echt runterziehen...Das ist wieder eine völlig ortsunabhängige Geschichte, die überall an jedem Ort jederzeit spielen kann. In ein paar Dingen habe ich durchaus mich selbst entdeckt. Ich wurde früher auch wegen meiner (medikamentenbedingten) Körperfülle und vor allem wegen meines Vornamens gehänselt. Und ja: auch ich habe irgendwann angefangen mich zu wehren, hab aber schnell gemerkt, dass die anderen eh stärker waren als ich. Von da an habe ich es gelassen.
Die Story mit den Kätzchen fand ich unterirdisch - da wäre ich gerne ins Buch gekrochen und hätte der Mutter die Meinung gegeigt...
Kafkas Parabel muss ich gleich mal lesen; danke für den Hinweis liebe @Querleserin !
 
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Die Geschichten werden wirklich immer heftiger und auch hier handelt das Geschehen von einem Verlierer. Allerdings kann dieser Verlierer weniger etwas für sein Verhalten. Wird eigentlich in das Geschehen hineingetrieben. Er tut mir leid. Wie mir auch seine Opfer leid tun. Und wie mir auch seine Familie leid tut, insbesondere seine Schwester und Mutter. Obwohl diese auch eine gewisse Mitschuld trifft, zumindest insofern, w3enn sie ihre Depression unbehandelt gelassen hat. Es klingt irgendwie danach.
 
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Gelöschtes Mitglied 2403

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Inne gehalten habe ich bei dem an ihn gerichteten Zettel seiner Mitschüler. "Ich würde mich nicht wundern, wenn er irgendwann mal einen Mord begeht." Dieser Satz wirft in meinen Augen definitiv Fragen der Mitschuld auf. Auch wenn der Schreiber wahrscheinlich schuldunfähig ist, aber dennoch für sein/ihr Alter viel sieht.
 

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Ein dermaßen gepeinigtes Kind muss sich ja abseitig des Normalen entwickeln. Es wird gewalttätig. Gewalt als Ventil zum Dampfablassen.
...dass solch‘ schwierige Startbedingungen ihre Folgen haben ist absolut klar. Aber so ein Mensch muss nicht zwangsläufig gewalttätig werden. Erlebte Defizite, Mobbing- und Ausgrenzungserfahrung, aufgestaute Wut und Hass können sich auch ganz anders äußern/zeigen...
 

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Auch diese Geschichte könnte überall stattfinden. Es muss nicht das Muldental sein. Solche Familienkonstellationen gibt es überall, wo Perspektivenlosigkeit um sich greift.
...absolut! Das dachte ich auch beim lesen. Da ist nichts typisch für Wendejahre oder neue Bundesländer. Es geht hier konkret um Eltern, die das Bedürfnis ihres Kindes nach Interesse, Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe nicht erfüllen (können), wobei ein Defizit, Traurigkeit, Enttäuschung, Frustration, Wut und Hass entsteht. Wenn dann noch Mobbing dazukommt, dann ist das ein gravierender Verstärker, was die psychische Instabilität anbelangt.
Es wird hier so schön beschrieben, wie Gunnar sein Defizit an Zuwendung durch Daumenlutschen kompensieren möchte (orale Ersatzbefriedigung), weshalb er gemobbt wird.
Um sich zu beruhigen, lutscht er mehr; Kieferdeformation und Mundgeruch folgen. Noch mehr Mobbing. Ein Teufelskreis!
Diese Dynamik hat Frau Krien wunderbar beobachtet und beschrieben.
 

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Allerdings kann dieser Verlierer weniger etwas für sein Verhalten. Wird eigentlich in das Geschehen hineingetrieben.
... oh doch! Er kann sehrwohl etwas für sein Verhalten! Niemand hat ihn getrieben, gedrängt oder gezwungen. Er hätte sich auch anders entscheiden können.
Leider wachsen nicht wenige Menschen unter solchen erschwerten Bedingungen auf. Aber die wenigsten davon werden zu Mördern. Ich habe großes Mitgefühl für Gunnar, was sein liebloses und kaltes Aufwachsen anbelangt. Aber das entschuldigt nicht alles.
 

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...ich habe mich gefragt, ob der Brief von den Nachbarzwillingen stammte und er sie dann aus seiner Mordswut heraus so grausam tötete.
Die Briefe wurden in der 9. Klasse geschrieben. Mit 15 beging er die Morde... vllt. habe ich da aber auch falsch kombiniert oder assoziiert...
 
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... oh doch! Er kann sehrwohl etwas für sein Verhalten! Niemand hat ihn getrieben, gedrängt oder gezwungen. Er hätte sich auch anders entscheiden können.
Leider wachsen nicht wenige Menschen unter solchen erschwerten Bedingungen auf. Aber die wenigsten davon werden zu Mördern. Ich habe großes Mitgefühl für Gunnar, was sein liebloses und kaltes Aufwachsen anbelangt. Aber das entschuldigt nicht alles.
Wenn du meine Ausführungen genau gelesen hättest, wäre dir aufgefallen, hier steht nicht er kann nichts für sein Verhalten, sondern hier steht er kann weniger für sein Verhalten. Nichts anderes habe ich gesagt! Und stimmt, er ist nicht direkt getrieben, gedrängt und gezwungen worden. Indirekt aber schon, eine Mutter, die nicht in der Lage ist Liebe zu geben, verweigert dem Kind etwas essentielles und dass das Folgen haben wird, ist nicht von der Hand zu weisen. Hier wirst du mir sicher zustimmen. Ein Vater, der daneben steht und dies weder bemerkt, noch dagegen vorgeht, auch hier wird es sicher Defizite geben. Beides hat Folgen! Natürlich kann man nicht sagen, dass solch ein Verhalten der Eltern direkt die Folge hat, dass das betroffene Kind zum Mörder wird. Habe ich auch nicht. Aber in diesem vorliegenden Fall könnte es das Geschehen durchaus erklären. Denke ich zumindest.
 

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Wenn du meine Ausführungen genau gelesen hättest, wäre dir aufgefallen, hier steht nicht er kann nichts für sein Verhalten, sondern hier steht er kann weniger für sein Verhalten.
...das habe ich nicht überlesen!
Ich denke, ich habe Dich schon verstanden.
Den Unterschied in unserer Auffassung sehe ich in dem „indirekt schuld“ bzw. „indirekt verantwortlich“ (so hab ich Dich interpretiert) und im „er kann WENIGER für sein Verhalten“.
Seine erschwerten Entwicklungsbedingungen sind auf jeden Fall ein Großteil der Erklärungen für seine Entwicklung und für sein Verhalten. Durch seine Eltern und die Peer Group wurde er geprägt. Aber natürlich nicht nur. Verantwortlich und schuldig ist nur er allein, auch wenn viele(s) andere seine Entwicklung nachvollziehbar macht. Es gibt keine indirekte Verantwortung oder Schuld für eine Tat. Der, der sie begeht, hat sich dazu entschieden und trägt allein Verantwortung und Schuld. Mann kann nicht sein Leben lang auf Eltern, Kindheit verweisen und Dich damit aus der Affäre ziehen. Es sind Erklärungen und Ursachen... der Auslöser liegt in einem selbst.
 
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...das habe ich nicht überlesen!
Ich denke, ich habe Dich schon verstanden.
Den Unterschied in unserer Auffassung sehe ich in dem „indirekt schuld“ bzw. „indirekt verantwortlich“ (so hab ich Dich interpretiert) und im „er kann WENIGER für sein Verhalten“.
Seine erschwerten Entwicklungsbedingungen sind auf jeden Fall ein Großteil der Erklärungen für seine Entwicklung und für sein Verhalten. Durch seine Eltern und die Peer Group wurde er geprägt. Aber natürlich nicht nur. Verantwortlich und schuldig ist nur er allein, auch wenn viele(s) andere seine Entwicklung nachvollziehbar macht. Es gibt keine indirekte Verantwortung oder Schuld für eine Tat. Der, der sie begeht, hat sich dazu entschieden und trägt allein Verantwortung und Schuld. Mann kann nicht sein Leben lang auf Eltern, Kindheit verweisen und Dich damit aus der Affäre ziehen. Es sind Erklärungen und Ursachen... der Auslöser liegt in einem selbst.

Dann haben wir hier einfach unterschiedliche Ansichten und das ist gut so.
 
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...das habe ich nicht überlesen!
Ich denke, ich habe Dich schon verstanden.
Den Unterschied in unserer Auffassung sehe ich in dem „indirekt schuld“ bzw. „indirekt verantwortlich“ (so hab ich Dich interpretiert) und im „er kann WENIGER für sein Verhalten“.
Seine erschwerten Entwicklungsbedingungen sind auf jeden Fall ein Großteil der Erklärungen für seine Entwicklung und für sein Verhalten. Durch seine Eltern und die Peer Group wurde er geprägt. Aber natürlich nicht nur. Verantwortlich und schuldig ist nur er allein, auch wenn viele(s) andere seine Entwicklung nachvollziehbar macht. Es gibt keine indirekte Verantwortung oder Schuld für eine Tat. Der, der sie begeht, hat sich dazu entschieden und trägt allein Verantwortung und Schuld. Mann kann nicht sein Leben lang auf Eltern, Kindheit verweisen und Dich damit aus der Affäre ziehen. Es sind Erklärungen und Ursachen... der Auslöser liegt in einem selbst.

Ach ja, niemand hat davon gesprochen, dass sich hier jemand aus der Affäre ziehen soll/kann/darf. Wer etwas tut, muss mit den Konsequenzen rechnen und das ist auch gut so.
 
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Jemand, der einen Menschen indirekt zu etwas drängt, hat eine gewisse Mitschuld in meinen Augen, auch wenn dies rechtlich nicht vollkommen klärbar ist. Erschwerend kommt hinzu, dass der Drängende anscheinend ahnt wohin die Sache führen wird und trotzdem weitermacht.

Aber natürlich ist der Ausführende, der Hingetriebene der Schuldige.
 
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Jemand, der einen Menschen indirekt zu etwas drängt, hat eine gewisse Mitschuld in meinen Augen, auch wenn dies rechtlich nicht vollkommen klärbar ist. Erschwerend kommt hinzu, dass der Drängende anscheinend ahnt wohin die Sache führen wird und trotzdem weitermacht.

Aber natürlich ist der Ausführende, der Hingetriebene der Schuldige.
...interessant, dass Du das so siehst. Hmmm...Ich denke, ich habe immer die Möglichkeit „ja“ und „nein“ zu sagen wenn jdm mich auf einen Gedanken bringt. Sagt jdm zu mir, ich soll eine Klippe hinunterspringen und ich tu‘s, dann bin ich doch selbst gesprungen, auch wenn er mich auf die Idee gebracht hat. Anders wäre es natürlich, wenn dieser Jdm mit einer entsicherten Waffe hinter mir stünde.

Bezogen auf den Roman sehe ich beim Schreiber des Briefes null Mitschuld.
 
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