Thema György Dalos: Neunzehnhundertfünfundachtzig

Die Häsin

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Danke fürs Einrichten des Fadens! Wir beginnen morgen, ja? Freue mich schon.

Hier der Klappentext zu meiner Ausgabe:

Der große Bruder ist tot. Heftige Fraktionskämpfe toben zwischen der Witwe - der großen Schwester - und pragmatischeren Cliquen .... György Dalos schreibt George Orwells Menetekel-Werk 1984 ganz respektlos ein Jahr weiter aus der Perspektive eines Historikers, der im Jahr 2035 in der Emigration an Hand von Dokumenten und Biographien eine Rückschau auf den kurzen Frühling von 1985 hält. Da die Gedankenpolizei Unterstützung in den Machtkämpfen braucht, versucht sie vorsichtig soetwas wie eine öffentliche Meinung wiederherzustellen, indem sie ein paar dissidentischen Intellektuellen die Gründung einer Zeitschrift erlaubt. Zentralisten, Radikale und Gemäßigte zerraufen sich dort über zentrale Fragen der Kunst und Kultur. Den ungarischen Dichter interessiert es nicht, ob Orwell recht behalten hat, sondern seine Satire gilt der notorischen Selbstüberschätzung der Intellektuellen gegenüber jedweder Staatsmacht."
 

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Habe jetzt die ersten Seiten gelesen und finde die Grundidee, dass ein Historiker aus dem Jahr 2035 auf die Ereignisse in Ozeanien im Jahr 1985 zurückblickt und diese anhand verschiedener Quellen rekonstruiert interessant. Erinnert an .

Die wichtigsten Protagonisten aus Orwells Roman kommen zu Wort, Winston, O‘Brian und Julia, ergänzt durch offizielle Mitteilungen, Zeitungsartikel, Gedichte und private Dokumente.

Ausgangspunkt ist, dass Ozeanien eine schwere militärische Niederlage gegen Eurasien erlitten hat, so dass es nur noch zwei Weltmächte gibt und Ozeanien auf das Gebiet Großbritanniens beschränkt ist. Es gibt einen „bewaffneten Frieden“, der seit 1985 anhält -wie der Kalte Krieg. Im Januar 1985stirbt der Große Bruder, das ist der erste offizielle Bericht.
Irgendwie bekommt er 2mal das linke Bein und den linken Arm amputiert, oder?
Winston kommt zuerst zu Wort, da er erzählen will, was im Jahr 1985 geschah:
„Es handelt sich um den Zusammenbruch des Regimes des Großen Bruders, den Sieg unserer Reformbewegung, und der Revolution,dann die lähmende Niederlage der letzteren, an deren Folgen wir heute noch leiden.“ (11)

Dalos geht von der Prämisse aus, dass dieser nicht vollständig gebrochen wurde - anders als Orwell es am Ende darstellt. Er wird von O‘Brian rekrutiert Chefredakteur der literarischen Beilage der Times zu werden. Dem stimmt er zu in der Hoffnung gegen das System arbeiten zu können.
Als Nächstes kommt Julia zu Wort, die es nach der niedergeschlagenen Revolution sogar zur Kulturministerin gebracht hat und deren Erinnerungen sozusagen noch öffentlich zugänglich sind. Sie schildert, dass die Reformbewegung mit der Gründung des TLS, einer literarischen Beilage der Times, begann“ (15)
Schlüsselfigur diese Zeit O‘Brien, den die Partei später wegen Machtmissbrauch inhaftiert hat. Äußeres Kennzeichen der Reformen sind geschminkte Frauen.

Dalos ist Ungar, könnte er in dem Roman an den Aufstand in Ungarn 1956 erinnern, oder an den Prager Frühling? Jedenfalls ist er vor dem Ende des Kalten Krieges 1982 erschienen.
 
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Irgendwie bekommt er 2mal das linke Bein und den linken Arm amputiert, oder?

Das mit dem linken Arm ist wohl Absicht, weil in einer Fußnote ausdrücklich darauf Bezug genommen wird - es könnte sein, dass der Große Bruder zwei linke Hände hatte .... Das mit dem Bein ist vielleicht ein Irrtum, könnte aber auch Absicht sein. Die ganze Schilderung ist so grotesk, dass ich mehrmals loslachen musste.

O'Brien veranlasst also die Gründung einer Art Feuilletonbeilage, die enthalten soll "eine kleine Kritik, ein bißchen Poesie und später vielleicht eine kleine Politik". Leiter des Ganzen wird folgerichtig Winston Smith, dem in 1984 von der Gedankenpolizei ein bisschen Folter, vielleicht eine kleine Gehirnwäsche und ein wenig Quälerei zugefügt wurden. :rolleyes:
 
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Ich habe den Eindruck, dass Dalos in dieser Satire die gescheiterten Revolutionen des Ostblocks "verarbeitet", aber auch auf andere Revolutionen bewusst anspielt. (s.unten)
Es ist Frühling zu Beginn der zaghaften Reformen, die allerdings von der Gedankenpolizei bzw. O´Brien erlaubt werden, da sich rivalisierende Teile der Partei - die Aluminiumfraktion und die Papierfraktion - nicht einigen können.
Dalos erfindet einen Hintergrund für O´Brien, dessen irischer Vater in Konflikt mit der königlichen Polizei Großbritanniens geraten ist.
"Feigheit und Dummheit" macht er für das Scheitern der Reform im Jahr 1985 verantwortlich, die seines Erachtens notwendig waren, damit der Staat besser funktionieren sollte.
Auserkoren wird die literarische Beilage der Times, um die Reformen durchzusetzen. Dichter behaupten ein Recht auf Traurigkeit, es kommt zu Debatten im Café Kastanienbaum, zu sexueller Revolution. Auch Smith profitiert davon ;).
Zu den Anspielungen:
"Dies Gedicht [das traurige] sei nichts anderes als ein Dolchstoß in den Rücken der kämpfenden ozeanischen Soldaten." (24)
"Syme hatte, keiner wußte woher, auch Nelken bei sich." (29)
--> Anspielung auf die Nelkenrevolution 1974 in Portugal
Die Reformen werden mit einem Tauwetter verglichen, genauso wie die Ära nach Stalins Tod so bezeichnet wird. Hier ist der Zusammenhang besonders deutlich, Massenentlassungen, zarte Anklänge von Freiheit und Aufständen, die auch O´ Brien nicht mehr kontrollieren kann, wie die Aufstand nach der Hamlet-Aufführung zeigt.
Interessant finde ich auch, dass Dalos Winstons Ehefrau zu Wort kommen lässt, die im Gegensatz zu ihm eine treue Anhängerin der Großen Schwester ist. Endlich kann sie die Scheidung einreichen, auch die ist nun erlaubt.
 

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Ich habe mich sehr amüsiert über Ampleforth' Gedichte. Aber die sind natürlich, wie alles andere, übersetzt - ich wüsste wirklich gerne, ob das auch im Original so armselig klingt. :D
Ich befürchte es, die sind wirklich grauenvoll. Wenn das die intellektuelle Elite Ozeaniens ist, müssen die Reformen scheitern.
Gefällt dir der "Bericht" - man kann ihn nur als Satire lesen, oder? Ihm fehlt der belehrende Ton Orwells.
 

Die Häsin

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Ich finde das Ganze bisher sehr witzig und musste mehrmals laut lachen - aber natürlich - gerade heute morgen dachte ich darüber nach - bricht die Darstellung stark mit der Tragik in Orwells 1984. Orwell hat ja, wenn ich mich richtig erinnere, sein Werk auch als "Satire" bezeichnet, es fehlt aber jede Komik - abgesehen vielleicht von ganz, ganz wenigen Seitenschlenzern, ich erinnere mich gerade an eine Szene mit Parsons, als er sinngemäß fragte: "Apropos Überfluss, haben Sie vielleicht eine Rasierklinge für mich?"

Dalos' Buch ist dagegen wirklich komisch. Ich lese es mit viel Spaß, aber man muss sich bewusst immer wieder daran erinnern, was es bedeutet, wenn eine halbe Million und später weitere 800 000 Gefangene entlassen werden ("aktualisierte Veteranen" mit dem Vorrecht, einmal monatlich Lebensmittel in den Läden für die Innere Partei einkaufen zu dürfen). Die Bitterkeit und Tragik ist gut versteckt.

ps. Bist du schon fertig? Ich bin erst auf Seite 39. Es stresst mich gerade ein wenig, dass ich zeitgleich in der Leserunde mit "Das Verschwinden der Erde" bin; am liebsten würde ich den Dalos jetzt schnell zu Ende lesen, damit ich mit klarem Kopf bei dem Leserundenbuch bin.
 

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Ich finde das Ganze bisher sehr witzig und musste mehrmals laut lachen -
Das ging/geht mir auch so, im Gegensatz zu 1984.

ich erinnere mich gerade an eine Szene mit Parsons, als er sinngemäß fragte: "Apropos Überfluss, haben Sie vielleicht eine Rasierklinge für mich?"
Ein perfektes Beispiel für Doppeldenk ;).

Bitterkeit und Tragik ist gut versteckt.
- sie schwingen permanent mit. Sind aber nicht offensichtlich. Anhand der Anspielungen auf gescheiterte Revolutionen wird die Bitterkeit meines Erachtens auch deutlich. Habe schon mal in die Biographie des Autors gespitzt, er selbst war auch inhaftiert.
ps. Bist du schon fertig?
Ich bin auf Seite 81, könnte heute Abend fertig sein ;). Also, lies es ruhig zu Ende, dann können wir morgen weiter diskutieren.
 

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Ich bin leider noch nicht so weit, bin erst auf Seite 50 und fürchte, dass ich noch ein, zwei Tage brauche.
So richtig frech fand ich die Richtlinie zum Privatleben (Kapitel 20, Seite 42). Hier sind wieder mal alle gleich, nur einige sind gleicher. Die Herren genießen die Freiheit zur Ausübung außerehelicher Beziehungen (natürlich nur "zum Zwecke der Aneignung der Praxis zur weiteren Bevölkerungsbildung"). Für die Damen ändert sich an der bisherigen Richtlinie nichts. Mit wem sollen die Herren dann verkehren? Mit "weiblichen Parteimitgliedern, die die entsprechende Erlaubnis haben", was wohl nur bedeuten kann, dass es sich um Prostituierte handelt.

Man kann sich schon fragen, ob das nicht tatsächlich ein gewisser Fortschritt in der Politik ist. Statt die Widersprüche per Doppeldenk zuzukleistern, werden sie offen zugegeben und zur Maxime gemacht.

Der Alte, den Winston Smith in "1984" in der Kneipe befragte, ist auch wieder aufgetaucht. Er erinnert sich sogar, selbst einen Zylinder getragen zu haben, und an den Verkauf von Orangen und Bananen (kann es sein, dass Dalos mit letzteren eigentlich Zitronen meinte)?
 

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Verkauf von Orangen und Bananen
Zitronen wären in der Tat passender. Der Alltag damals sei viel bunter gewesen als das ganze nachrevolutionäre Zeitalter, ist der Atemnot des Artikels, den Smith daraus macht.
Es tut sich was im Regimes, auch dieFernsehgymnastik wird abgemildert - man hat die Wahl.

Ich habe die Satire heute fertig gelesen und festgestellt, dass die Fußnoten irgendwann das Interessanteste sind. Der Historiker wird zunehmend persönlicher, die Beschäftigung mit der Geschichte verändert seine Einstellung oder - aber ich will nicht zu viel verraten. Mit dem Fazit warte ich noch.
 

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Auf Seite 57 ist Julia plötzlich blond. Hat sie sich die Haare gefärbt oder hat der Historiker "1984" schlampig gelesen? :D

Auf Seite 77 ein klassischer Salto: Es sei ein Gerücht, dass Ozeanien bei Hongkong und Brazzaville um Soforthilfe gebeten hätte - Ozeanien hat selbst genug Probleme und kann anderen Staaten derzeit keine Unterstützung gewähren. Hä? :D:D
 
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Rhönrand bei Fulda
Der "Historiker", offenbar entweder im Irrenhaus oder im Knast interniert, nutzt die Fußnoten mehr und mehr für einen persönlichen Rachefeldzug gegen seinen Chef.
Sehr amüsiert habe ich mich über den Umstand, dass offenbar jede politische Gruppe als erstes ihre Ideen zur Reformierung der Fernsehgymnastik ventiliert. Das scheint ein immens wichtiges Thema zu sein.

Ich habe ein wenig den Faden verloren. Am Ende wird jeder erschossen, der nicht lächelt (es gibt sogar eine Automatikwaffe dafür), aber welche Gruppe den Sieg davongetragen hat, habe ich nicht mitbekommen. Außer, dass O'Brien natürlich immer noch oben schwimmt und der arme Winston Smith seine letzte Nacht in Freiheit bei seiner Frau Catharine verbrachte, nachdem Julia mit ihm gebrochen hat. Winston Smith wird zu dreißig Jahren Haft verurteilt, aber schon wenige Jahre später amnestiert. Wir sind im Land des Lächelns angekommen. Sogar die Gefängnisse (der Historiker sitzt ein) sind die reinsten Wohlfühlorte, abgesehen davon, dass es keine Fenster in den Zellen gibt, damit man sie nicht vergittern muss. :p
 
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