Freiheit (S. 158 - 173)

Querleserin

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Das ist für mich die Geschichte des Erzählbandes, die mich am meisten mitgenommen hat und bei der ich danach eine Pause gebraucht habe.
Freiheit bedeutet, eigene Entscheidungen zu treffen und damit dann auch leben zu können - auch wenn es in diesem Fall die Freiheit ist, ein Kind abzutreiben, das behindert zur Welt kommen wird. Rechtlich gesehen hat Eva die Berechtigung dazu, sie darf trotz des späten Zeitpunktes der Schwangerschaft noch eine Abtreibung durchführen und sie hat die Entscheidung nach reiflicher Überlegung getroffen.
Die Erzählerin lockt uns zunächst auf eine falsche Fährte, man glaubt, die beiden führen ins Krankenhaus, damit Eva entbinden kann, die Namensliste, die mitgenommen wird.
Doch gleich zu Beginn sind mir Zweifel gekommen.
"Heute ist ein guter Tag, um Gott zu zeigen, wer die Entscheidungen in ihrem Leben trifft." (159) Passt das zu einer Entbindung?
Warum schiebt Eva Pauls Hand beiseite? Das hat mich irritiert.
Eva blickt zunächst zurück auf ihre katholische Erziehung, auf den Glauben ihrer Eltern, dem Eva abschwört und wovon sie sich distanziert. Sie ist eine erfolgreiche Musikerin, Paul und sie spielen in einer Jazzband.
Im Krankenhaus glaubt man zunächst, sie habe einen Kaiserschnitt geplant, da sie noch zuerst ihr Zimmer beziehen kann. Erst an der Stelle mit der Spritze habe ich wirklich realisiert, dass eine "Totgeburt" eingeleitet wird. Das ist so nüchtern beschrieben und löst doch so große Emotionen aus...
Erst danach wird erzählt, dass erst in der 33.Schwangerschaftswoche eine Trisomie 21 mit Herzfehler bei dem Ungeborenen festgestellt wurde. Eva entscheidet sich aus freiem Willen gegen dieses Kind, während Paul das Kind gewollt hätte, aber
"Sie traf Entscheidungen." (169)
Nachdem diese gefallen ist, entfremdet sich das Paar voneinander.
Unklar bleibt, ob das Kind nicht doch gesund gewesen wäre, da es "ganz normal" (171) aussieht. Eva fällt es schwer, das totgeborene Kind aus den Händen zu geben, es scheint so, als ob sie die Entscheidung doch bereue.
Das Ende der Geschichte lässt vermuten, dass auch die Beziehung über diese Entscheidung in die Brüche geht. Paul wirft den Magneten "Maya" weg, an dem die Namensliste befestigt gewesen ist, so als habe er das Thema gemeinsame Kinder abgehakt.
Der Schlusssatz bildet einen Rahmen zum Anfang - doch alles hat sich verändert.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Die Erzählerin lockt uns zunächst auf eine falsche Fährte, man glaubt, die beiden führen ins Krankenhaus, damit Eva entbinden kann, die Namensliste, die mitgenommen wird.
An dieser Stelle empfand ich die werdende Mutter schon als ziemlich kaltschnäuzig, weil sie im Angesicht der bevorstehenden Geburt Gott regelrecht verspottet. Sie braucht ihn nicht, sie trifft ihre eigenen Entscheidungen. Das sitzt. War mir völlig unverständlich, doch später wurde das ja aufgeklärt.
Erst an der Stelle mit der Spritze habe ich wirklich realisiert, dass eine "Totgeburt" eingeleitet wird. Das ist so nüchtern beschrieben und löst doch so große Emotionen aus...
Unglaublich, wie das beschrieben wird! Wie Paul weint, als das Kind die letzten Zuckungen macht. Wie sehr sich das Paar schon entfremdet hat. Dennoch bleibt Paul hier an ihrer Seite, steht es mit ihr durch, obwohl er dagegen war. Das ist Charakter.
Unklar bleibt, ob das Kind nicht doch gesund gewesen wäre, da es "ganz normal" (171) au
Ich glaube, die modernen pränatalen Untersuchungsmöglichkeiten sind über fast jeden Zweifel erhaben. Zudem habe ich mal gelesen, dass man Trisomie 21 zunächst bei Neugeborenen nur an einer (Hand-)Falte erkennen kann, das Handicap also erst später ersichtlich wird. Ein Herzfehler versteckt sich ebenfalls. Also für mich steht es außer Zweifel, dass das Kind schwer behindert gewesen wäre. Dennoch macht es das normale Aussehen ungleich schwerer.
Eva fällt es schwer, das totgeborene Kind aus den Händen zu geben, es scheint so, als ob sie die Entscheidung doch bereue.
Das sehe ich ebenso. Hier trifft Paul die Entscheidung und übernimmt "die Entsorgung". Wir erfahren nicht, wie diese aussieht. Ich gehe aber von einer ordentlichen Bestattung aus. Das würde zu Paul passen.
Das Ende der Geschichte lässt vermuten, dass auch die Beziehung über diese Entscheidung in die Brüche geht
Das stand zu befürchten. Die beiden waren schon in der Kinderwunschfrage völlig uneins. Eva wollte kein Kind und brauchte Monate, um sich an das Kind im Bauch zu gewöhnen und eine Beziehung aufzubauen, während Paul sich auf das Kind freut. Paul hat sich durchgesetzt mit dem Kinderwunsch. Jetzt setzt sich Eva mit dem Abbruch durch...
Das zu verarbeiten als Paar stelle ich mir schon unglaublich schwer vor, wenn man den Abbruch GEMEINSAM entscheidet. Dass die geschilderte Partnerschaft daran zerbricht, wundert nicht.
Der Schlusssatz bildet einen Rahmen zum Anfang - doch alles hat sich verändert.
Danke, das hätte ich übersehen.

Auch diese Geschichte könnte überall angesiedelt sein. Nur der Hinweis auf die Jugendweihe zeigt, dass sie in Ostdeutschland angesiedelt ist.
 

Querleserin

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Wadern
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Wir erfahren nicht, wie diese aussieht. Ich gehe aber von einer ordentlichen Bestattung aus. Das würde zu Paul passen.
Du liegst richtig:
[zitat]Paul hatte auf der Beerdigung bestanden. (172)[/zitat]

Interessant auch die Aussage, dass beim Verlassen der Klinik das Land von „sauberen“ Schnee bedeckt ist.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Das ist für mich die Geschichte des Erzählbandes, die mich am meisten mitgenommen hat und bei der ich danach eine Pause gebraucht habe.
Freiheit bedeutet, eigene Entscheidungen zu treffen und damit dann auch leben zu können - auch wenn es in diesem Fall die Freiheit ist, ein Kind abzutreiben, das behindert zur Welt kommen wird. Rechtlich gesehen hat Eva die Berechtigung dazu, sie darf trotz des späten Zeitpunktes der Schwangerschaft noch eine Abtreibung durchführen und sie hat die Entscheidung nach reiflicher Überlegung getroffen.
Die Erzählerin lockt uns zunächst auf eine falsche Fährte, man glaubt, die beiden führen ins Krankenhaus, damit Eva entbinden kann, die Namensliste, die mitgenommen wird.
Doch gleich zu Beginn sind mir Zweifel gekommen.
"Heute ist ein guter Tag, um Gott zu zeigen, wer die Entscheidungen in ihrem Leben trifft." (159) Passt das zu einer Entbindung?
Warum schiebt Eva Pauls Hand beiseite? Das hat mich irritiert.
Eva blickt zunächst zurück auf ihre katholische Erziehung, auf den Glauben ihrer Eltern, dem Eva abschwört und wovon sie sich distanziert. Sie ist eine erfolgreiche Musikerin, Paul und sie spielen in einer Jazzband.
Im Krankenhaus glaubt man zunächst, sie habe einen Kaiserschnitt geplant, da sie noch zuerst ihr Zimmer beziehen kann. Erst an der Stelle mit der Spritze habe ich wirklich realisiert, dass eine "Totgeburt" eingeleitet wird. Das ist so nüchtern beschrieben und löst doch so große Emotionen aus...
Erst danach wird erzählt, dass erst in der 33.Schwangerschaftswoche eine Trisomie 21 mit Herzfehler bei dem Ungeborenen festgestellt wurde. Eva entscheidet sich aus freiem Willen gegen dieses Kind, während Paul das Kind gewollt hätte, aber
"Sie traf Entscheidungen." (169)
Nachdem diese gefallen ist, entfremdet sich das Paar voneinander.
Unklar bleibt, ob das Kind nicht doch gesund gewesen wäre, da es "ganz normal" (171) aussieht. Eva fällt es schwer, das totgeborene Kind aus den Händen zu geben, es scheint so, als ob sie die Entscheidung doch bereue.
Das Ende der Geschichte lässt vermuten, dass auch die Beziehung über diese Entscheidung in die Brüche geht. Paul wirft den Magneten "Maya" weg, an dem die Namensliste befestigt gewesen ist, so als habe er das Thema gemeinsame Kinder abgehakt.
Der Schlusssatz bildet einen Rahmen zum Anfang - doch alles hat sich verändert.

Und obwohl dieses Thema wirklich schwer zu ertragen ist. Die Zeichnung der Charaktere Eva und Paul gelingt Daniela Krien perfekt. Ich schwinge derartig mit!! Ich bin gespannt, wie die nächsten Geschichten werden!!
 

SuPro

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Soeben die Geschichte fertig gelesen und die Gedanken schweifen gelassen, muss ich wieder erst was loswerden, bevor ich Eure Kommentare lese und mitdiskutiere.

Unglaublich, wie eindrücklich und berührend Frau Krien die inneren Vorgänge und äußeren Abläufe beschreibt. Bin schon wieder zu Tränen gerührt und tief bewegt. Irre, was die Autorin da macht!

3 Fragen schwirren mir nun im Kopf herum:
War der Abbruch ubw nötig, um sich vom Vater zu emanzipieren (und daher unfrei) oder war die Entscheidung gegen das Kind ihre bewusste, freie Entscheidung?

Wird die Beziehung das überleben?

Wie wird Eva das verdauen, verarbeiten und verkraften? Oft werden Frauen, die sich für einen Abbruch entschieden haben, noch nach Jahren von starken inneren Zweifeln, großer Traurigkeit oder gar Schuldgefühlen gequält.
 

SuPro

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Welch‘ unglaublich eindrücklicher und gewichtiger Satz:“ ...ahnte Eva die Wucht der Enttäuschung, wenn sich herausstellt, dass das eigene Kind mehr ist als die Reproduktion des eigenen Ichs“.
Wahnsinn, diese Formulierung und höchst psychologisch tiefgründig!!!

Dem liegt der unbewusste oder sogar bewusste Wunsch Vieler (der Meisten!) zugrunde, dass das eigene Kind in die eigenen Fußstapfen tritt und die eigenen Werte und Normen übernimmt.
Es erfordert viel Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, Toleranz und Vertrauen, dem eigenen Kind zuzugestehen, dass es ein eig. und unabhängiges ICH hat bzw. entwickeln wird.
Das dem Kind zuzugestehen, erfordert einen elterlichen schrittweisen und altersgemäßeren Abnabelungsprozess, der es dem Kind ermöglicht und vereinfacht, sich abzunabeln.
Wie vielen Eltern gelingt das nicht und wie viele (auch erwachsene) Kinder leiden darunter und brauchen deshalb psychotherapeutische Hilfe. All das fängt Krien mit diesem einen Satz ein! Toll!
 

kingofmusic

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Welch‘ unglaublich eindrücklicher und gewichtiger Satz:“ ...ahnte Eva die Wucht der Enttäuschung, wenn sich herausstellt, dass das eigene Kind mehr ist als die Reproduktion des eigenen Ichs“.
Wahnsinn, diese Formulierung und höchst psychologisch tiefgründig!!!

Dem liegt der unbewusste oder sogar bewusste Wunsch Vieler (der Meisten!) zugrunde, dass das eigene Kind in die eigenen Fußstapfen tritt und die eigenen Werte und Normen übernimmt.
Es erfordert viel Selbständigkeit, Selbstbewusstsein, Toleranz und Vertrauen, dem eigenen Kind zuzugestehen, dass es ein eig. und unabhängiges ICH hat bzw. entwickeln wird.
Das dem Kind zuzugestehen, erfordert einen elterlichen schrittweisen und altersgemäßeren Abnabelungsprozess, der es dem Kind ermöglicht und vereinfacht, sich abzunabeln.
Wie vielen Eltern gelingt das nicht und wie viele (auch erwachsene) Kinder leiden darunter und brauchen deshalb psychotherapeutische Hilfe. All das fängt Krien mit diesem einen Satz ein! Toll!
Es ist so unglaublich bereichernd, Expertinnen wie dich hier zu haben, liebe @SuPro! :cool:
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich glaube, dieser falschen Fährte von Frau Krien sind wir alle gefolgt :).
Man darf davon ausgehen, dass das GENAU SO intendiert war :D
ist eine emotionale Distanz... das Gefühl, mit der Entscheidung allein zu sein...
Für mich ist es im Nachgang ein Symbol der Distanz, die sich zwischen den Eheleuten aufgebaut hat. Ein (Nicht) Kinderwunsch allein kann schon entzweien. Nun ist das Kind da, aber schwer behindert. Die Entscheidung zur Abtreibung war wieder gespalten und einseitig.
Er geht zwar mit, aber sie WEISS,dass er ihr Verhalten nicht billigt, sie also im Inneren allein damit ist.

Wie im gesamten Buch stimmt einfach jede Geste, jeder Satz, jede Metapher. Genial!
 

SuPro

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Man darf davon ausgehen, dass das GENAU SO intendiert war :D

Für mich ist es im Nachgang ein Symbol der Distanz, die sich zwischen den Eheleuten aufgebaut hat. Ein (Nicht) Kinderwunsch allein kann schon entzweien. Nun ist das Kind da, aber schwer behindert. Die Entscheidung zur Abtreibung war wieder gespalten und einseitig.
Er geht zwar mit, aber sie WEISS,dass er ihr Verhalten nicht billigt, sie also im Inneren allein damit ist.

Wie im gesamten Buch stimmt einfach jede Geste, jeder Satz, jede Metapher. Genial!
...in den gleichen Kontext passt „Sie geht auf ihn zu, doch er wendet sich ab...“ (S. 172) - die innere Distanz zeigt sich im Verhalten...