Franz Kafka: Der Steuermann

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»Bin ich nicht Steuermann?« rief ich. »Du?« fragte ein dunkler hoch gewachsener Mann und strich sich mit der Hand über die Augen, als verscheuche er einen Traum. Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf, und nun war dieser Mann gekommen und wollte mich beiseiteschieben. Und da ich nicht wich, setzte er mir den Fuß auf die Brust und trat mich langsam nieder, während ich noch immer an den Stäben des Steuerrades hing und beim Niederfallen es ganz herumriß. Da aber faßte es der Mann, brachte es in Ordnung, mich aber stieß er weg. Doch ich besann mich bald, lief zu der Luke, die in den Mannschaftsraum führte und rief: »Mannschaft! Kameraden! Kommt schnell! Ein Fremder hat mich vom Steuer vertrieben!« Langsam kamen sie, stiegen auf aus der Schiffstreppe, schwankende müde mächtige Gestalten. »Bin ich der Steuermann?« fragte ich. Sie nickten, aber Blicke hatten sie nur für den Fremden, im Halbkreis standen sie um ihn herum und als er befehlend sagte: »Stört mich nicht«, sammelten sie sich, nickten mir zu und zogen wieder die Schiffstreppe hinab. Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?
 

ElisabethBulitta

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Was ist das für Volk! Denken sie auch oder schlurfen sie nur sinnlos über die Erde?

Der Satz könnte von mir stammen. Passt irgendwie zu unserer Zeit, wobei ich weiß, dass es etwas Arrogantes an sich hat. Aber dass der Fremde das Schiff übernimmt, spricht z.B. für Diktatoren o.Ä.

Das Schiff ist ja ein Symbol mit mehreren Bedeutungen (wobei Symbole ja immer mehrschichtig sind), die bekannteste ist ja wahrscheinlich die Kirche, aber auch das Leben oder der Staat sind möglich, wobei ich bei Kafka mich auf die letzten beiden beziehen würde. Der Steuermann ist dann logischerweise derjenige, der das Schiff durch Gewässer bringen soll, also das "Ich" des Lebens oder, beim Staat eben, das Staatsoberhaupt.


»Bin ich nicht Steuermann?
impliziert eine gewisse Unsicherheit/Selbstzweifel: Es ist eine Frage, keine Feststellung. Interessant wäre zu erfahren, ob der Ich-Erzähler diese Frage erst mit dem Auftauchen des neuen Steuermanns stellt, oder ob sie schon älter ist.

Ich war am Steuer gestanden in der dunklen Nacht, die schwachbrennende Laterne über meinem Kopf,
... steht auf jeden Fall für eine schwere Phase. Dunkelheit ist immer etwas Angsteinflößendes, von Unsicherheit Geprägtes. Allerdings finde ich, dass die Laterne, also das Licht, auch wenn es nur schwach brennt, ein wenig Hoffnung gibt. Trotz der "dunklen Zeit" war der Steuermann also nicht völlig verzweifelt. Der Kampf ums Steuer hinterlässt denselben Eindruck. Wenn man den Text also detaillierter betrachtet, ist er, trotz der düsteren Stimmung, nicht völlig pessimistisch. Kämpfe auszufechten, ist dem Leben (und auch den eizelnen Organisationen) immanent sozusagen. Ohne geht es nicht.

Die Hilfe, die der Ich-Erzähler sich von der Mannschaft verspricht, kommt aber nicht. Der Mannschaft ist es wohl gleichgültig, wer sie führt. Wobei es auch interessant ist, dass der Steuermann erst in dem Augenblick nach seiner Mannschaft ruft, in der seine Position infrage gestellt wird.

Wenn ich den Text biographische deute, würde ich sagen:
Ich-Erzähler --> Kafka
Schiff --> sein Leben, Ringen um seine schriftstellerische, freie Existenz
dunkler Mann --> Vater (ich hätte eigentlich auch oben schreiben müssen, dass der dunkle Mann ebenfalls beängstigend ist)
Volk/Mannschaft --> seine Familie, die ihn nicht unterstützt

Die Interpretation mit dem Staat würde mir auch gefallen, weil sie gerade auch aktuell wäre.
Ich-Erzähler --> aktuelles Staatsoberhaupt (aktuell: etablierte Parteien)
Schiff --> Staat
dunkler Mann --> der neue "Heilsbringer" (davon gibt es in der Geschichte ja genug)
Volk/Mannschaft --> klar, die Bevölkerung, der es im Prinzip egal ist, wer an der Spitze steht, Hauptsache "Brot und Spiele"
 

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@ElisabethBulitta, deine Interpretation entspricht genau dem Erwartungshorizont, den ich mit meiner Kollegin gemeinsam entworfen habe. Bin nur mal gespannt, ob meine Schüler*innen auch so klug deuten wie du. Eher nicht ;)
Wir hatten auch noch eine psychologische Deutung nach Freud erwogen: das Ich als Steuermann, der dunkle Mann als Über-ich, das Es als Mannschaft - ist aber nicht so überzeugend, wie die biographische Deutung. Den Hinweis auf den Traum könnte man auch als Verdrängung des Steuermanns interpretieren, das ein neuer Steuermann die Leitung übernehmen will.
 
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ElisabethBulitta

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@ElisabethBulitta, deine Interpretation entspricht genau dem Erwartungshorizont, den ich mit meiner Kollegin gemeinsam entworfen habe. Bin nur mal gespannt, ob meine Schüler*innen auch so klug deuten wie du. Eher nicht ;)
Wir hatten auch noch eine psychologische Deutung nach Freud erwogen: das Ich als Steuermann, der dunkle Mann als Über-ich, das Es als Mannschaft - ist aber nicht so überzeugend, wie die biographische Deutung. Den Hinweis auf den Traum könnte man auch als Verdrängung des Steuermanns interpretieren, das ein neuer Steuermann die Leitung übernehmen will.

Darüber hatte ich auch schon nachgedacht. Nur kann ich mich mit Freud so ganz und gar nicht anfreunden.

Außerdem ist mir beim Spazierengehen noch eingefallen: Eine gute Frage ist auch, warum sich das Volk/die Mannschaft unter Deck (ich interpretiere das jetzt mal so) befindet. Im Prinzip sehe ich da drei Möglichkeiten:
a) Der Ich-Erzähler/Steuermann hat sie dorthin verbannt, weil er meint, allein alles im Griff zu haben, ohne sie sozusagen besser/gut zurechtzukommen. Dafür spricht auch, dass er sich wohl nicht unbedingt als Teil der Mannschaft fühlt, denn er ruft ja nach ihr und "beschimpft" sie Ende sogar bzw. macht sich über sie lustig/ist genervt (ein Ausdruck, den ich allerdings hasse und so nicht schreiben würde). Eigentlich sollte er als Steuermann ja Teil der Crew sein.
b) Die Mannschaft hat sich von allein zurückgezogen, weil es ihr schlichtweg egal ist, wer das Steuer führt ... Hauptsache es gibt einen Dummen, der das tut. Solange alles glattgeht, ist sie zufrieden und genießt das Leben. Dafür spricht, dass sie ja nur einen Blick nach oben wirft und sich dann wieder verdünnersiert, nachdem sie sieht, das ein anderer die Führung übernommen hat. Läuft alles wie gehabt weiter, stört sie es nicht, wer oben das Ruder führt.
c) Die Mannschaft vertraut ihrem Steuermann voll und ganz, dann aber sollte sie ihm doch zu Hilfe eilen oder wenigstens zeigen, dass sie sich kümmert, betroffen ist. Darum halte ich diese Möglichkeit für die abwegigste.
 
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ElisabethBulitta

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Den Ausdruck "schlurfen" finde ich übrigens toll. Die werden sicher irgendwann über ihre eigenen Füße fallen.

Das ist Lebenserfahrung von mir. Meine Kleinen schlurfen auch immer und legen sich entsprechend ständig lang. Ich weiß nicht, wie oft an einem Schulvormittag ich sage: "Füße heben beim Laufen." (Das "Laufen" ist meine Assimilation an den süddeutschen Sprachgebrauch.) :D

Das "Schlurfen" könnte man natürlich auch interpretieren, aber das lass' ich jetzt bleiben.
 

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Läuft alles wie gehabt weiter, stört sie es nicht, wer oben das Ruder führt.

Für diese Interpretation spricht die Schlussbemerkung des ersten Steuermann. Sie denken nicht, sie schlurfen nur - nehmen alles in Kauf. Zum Gehorsam bereit.
Für mich ist die Parabel unglaublich aktuell- denn die Mannschaft erscheint völlig indifferent, wer sie führt. Das sollte es aber nicht sein - oder sie sind eingeschüchtert, verbannt, wie du geschrieben hast (Variante a) und nicht mehr fähig sich zu wehren. Nichtsdestotrotz ein Aufruf aufzubegehren - nicht alles und jeden hinzunehmen.
 
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ElisabethBulitta

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Sie denken nicht, sie schlurfen nur - nehmen alles in Kauf. Zum Gehorsam bereit.

Die Aktualität herauszustellen, habe ich ja auch versucht. Aber das "Schlurfen" ist für mich kein Zeichen von Gehorsem, sondern ein Zeichen von (Denk-)Faulheit (zumindest wenn man noch voll auf der Höhe ist/zu sein glaubt) und Gleichgültigkeit. Wobei das mir der Faulheit natürlich eine Ironie in sich ist, denn auf die Dauer ist es anstrengender zu schlurfen.
 
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Sie denken nicht, sie schlurfen nur - nehmen alles in Kauf. Zum Gehorsam bereit.
Für mich ist die Parabel unglaublich aktuell-
Ja. Ich hätte mich klar für die aktuelle Interpretation entschieden. Das müde Volk, dass nur einfache Antworten hören will und jemanden braucht, der die Dinge lenkt.

Ist bei Kafka denn alles immer im biografischen Kontext zu sehen? Ich höre immer wieder vom dominanten Vater... Wenn Kafka immer nur über sich selbst geschrieben und reflektiert hat, ist das irgendwie aber auch ganz schön dürftig :confused:
(Das darf der kingofmusic aber nicht hören ;))
 

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Ist bei Kafka denn alles immer im biografischen Kontext zu sehen?
Kafkas Texte sind letztlich zeitlos. Zunächst ist es - zumindest im Deutschunterricht - üblich, ein Werk, ob Kurzprosa, Gedicht, Roman oder Drama - werkimmanent zu deuten. D.h. was sagt mir der Text, welche Intention, welches Thema hat er (damit bringt man die Schüler*innen schon zur Verzweilfung ;) )
Wie ist er aufgebaut? Welche sprachlichen Besonderheiten weist er auf, diese sind jedoch immer nur in ihrer Wirkung und Funktion für den Text zu beschreiben und zu interpretieren - also es nutzt nichts, dass ich erkenne, dass der Text eine Alliteration enthält, sondern sollte auch erklären können warum steht die an dieser Stelle - okay, ich schweife ab ;)
Also zurück - der Text steht immer für sich. Und fast jede*r von uns kann heute noch etwas aus den Kafka-Texten herauslesen...
Erst im 2.Schritt erwäge ich Möglichkeiten, auf welche Art und Weise man den Text noch deuten könnte und eine (!) davon ist die biographische. Ich muss @ElisabethBulitta Recht geben. Selbst wenn Kafka in diesen Texten jeweils "nur" sein Verhältnis zum Vater reflektiert hätte, sind sie großartig, weil ich so vieles daraus lesen kann. Sie sind so unglaublich kunstvoll und wie schon erwähnt zeitlos.
 

kingofmusic

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Wenn Kafka immer nur über sich selbst geschrieben und reflektiert hat, ist das irgendwie aber auch ganz schön dürftig :confused:
(Das darf der kingofmusic aber nicht hören ;))
Ich habe es bereits gehört :p:D.
Ich kann aber auch damit umgehen ha ha ha.

Sorry, dass ich die letzten Tage so gar nichts mehr hier in den Threads zu Kafka sagen konnte. Hab ein wenig Nachholbedarf :)