Fazit

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.571
21.778
49
Brandenburg
Letztlich habe ich doch eine ganze Menge an Informationen über Carola Neher bekommen, deren Person mir gänzlich unbekannt gewesen ist. Diese Informationsfülle lässt mich gegenüber der Unbeholfenheit des Romans etwas milder werden. Freilich verstehe ich nicht, warum der Autor keine reine Biografie geschrieben hat. Biografien werden durchaus gelesen!
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.638
4.784
49
62
Essen
Carola Nehers Leben zwischen den beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts liefert ganz sicher Stoff für einen spannungsreichen biografischen Roman. Allerdings braucht man dafür auch Zeitzeugnisse, Dokumente und zeitgeschichtliche Einblicke in dieses vergangene Leben. Hinsichtlich der Zeit, die Neher in Deutschland bzw. anderen westlichen Ländern verbracht hat, konnte der Autor dazu ziemlich aus den Vollen schöpfen und uns Lesern einen guten und glaubwürdigen Eindruck ihres Künstler- und privaten Lebens geben. Doch was, wenn die Datenlage mies ist, weil die Zeitzeugnisse einfach nicht vorliegen bzw. unter Verschluss gehalten werden. Das ist im Russland Putins der Fall. Für eine kurze Zeit in den 1980/90er Jahren gab es mal eine Bürgerbewegung, die die Archive über die Stalinzeit und die in Lagern Verschwundenen aufzuarbeiten begann, um auch hier im Osten die Verbrechen des diktatorischen Staates aufzudecken. Doch diese Zeit ist vorbei. Unter Putin wurde "Memorial", die bekannteste der Organisationen dieser Bestimmung, verboten. Kritik an der "glorreichen" Vergangenheit der Sowjetunion ist nicht erwünscht und wird verfolgt. Und so sieht dann auch der Teil des Romans von Holger Haase in den Bereichen, die die sowjetische Seite der Neher-Biografie abbilden soll, mager aus. Der Versuch, die Erinnerung an die "deutsche Zeit" Nehers in das Sowjetgefängnis mit seinen Charakteren und "Lebens"-bedingungen einzubauen, scheitert leider an dieser mageren Daten- und Informationslage. Die Teile stehen unverbunden und nicht zusammenpassend nebeneinander und gaben mir als Leser dem Roman von Anfang bis Ende den Anstrich des Unglaubwürdigen und des Konstruktionsfehlers.
Es wäre aus meiner Sicht besser gewesen, hätte Haase sein reiches Wissen über das Leben der Carola Neher klar und deutlich aus einer dritten Perspektive eines neutralen Erzählers berichtet. Die Fiktion, dass wir zumindest sehr nahe an Vernehmungsverläufen aus der Butyrka dran sind, ist auf jeden Fall in keiner Weise aufgegangen und schmälerte erheblich für mich das Leseerlebnis.
 

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
2.724
9.736
49
Fortsetzung aus dem 4. Leseabschnitt

... Sie [Herr Haase] geben ja zu, den ersten Entwurf komplett verworfen zu haben. Da hätte es mich schon stark interessiert, wie der ausgesehen hat.
Ich habe den Eindruck, bei Ihnen immer Zweierlei geboten bekommen zu haben. Unter dem Eindruck des letzten Viertels, verstärkt sich dieses Gefühl noch einmal. Kusnezow und Neher legen beide ihre Karten offen, Neher wird in der Dunkelzelle gebrochen, Kusnezow lässt mit seiner Hartnäckigkeit den Ausweisungsstempel zu benutzen, seine zukunftsgerichtete Sicht auf Gulag und co erkennen.
Diese menschlichen, und endlich zusammengeführeten Dramen wurden leider überschüttet mit Beschreibungen der Kleidung, der Örtlichkeiten und der Theateraufführungen.
Brecht, als einer der wenigen wichtigen richtungsweisenden Veränderungen in Nehers Verständnis der politischen Gegebenheiten und Anlass für Anatol Becker, hatte schon seine berechtigten Auftritte. Ein Heinz Rühmann zum Beispiel hätte es nicht gebraucht. Für Klabund war Neher einfach noch zu jung und eigensüchtig.
Auch taucht Carols Familie nicht auf, was aber meiner Meinung nach, dringend zu einer Biografie dazugehört.
Dieses Buch ist weder Fisch, noch Fleisch, aber ein Baustein im Verstehen der Zeit zwischen den Kriegen. Der Fokus ist allerdings nicht wirklich definiert. Eine faktenbasierte Aufzählung, oder eine spannende Sicht auf diese politisch polarisierende Zeit, eine Entscheidung täte dem Buch gut.
Aber der Ansatz, der Ansatz war gut und das honoriere ich. Vielen Dank!
Beste Grüße
Dat Emswashed
 

Barbara62

Bekanntes Mitglied
19. März 2020
3.870
14.796
49
Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich schließe mich euch voll und ganz an, eine Biografie - auch mit Lücken - hätte ich deutlich vorgezogen. Auch für mich hat die Struktur des Romans nicht funktioniert, ich habe darunter genauso gelitten wie unter der Dialoglastigkeit.

Trotz des zweifellos interessanten Lebens von Carola Neher habe ich mich in der ersten Hälfte des Buches gelangweilt. Offensichtlich kann der Autor besser damit umgehen, wenn er nicht zu viele Informationen hat. Jede einzelne (Provinz-)Bühne, jede Rolle, jedes Kleidungsstück, und das immer nur aufzählend - hier wäre weniger eindeutig mehr gewesen. Ich hatte auch nie den Eindruck, dass ich der Protagonistin nahekomme, sie blieb mir bis zum Schluss fremd.

Nichtsdestotrotz hat der letzte Abschnitt voraussichtlich den dritten Stern gerettet. Es wird aber ein paar Tage dauern, bis ich soweit bin.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.339
10.604
49
49
Wäre der letzte Abschnitt nicht gewesen, wäre mein Urteil deutlich schlechter ausgefallen. Doch trotz allem war es kein Buch, dass ich mit Begeisterung gelesen habe. Es ist tragisch was Carola Neher wiederfahren ist, doch leider reicht diese Erkenntnis am Ende nicht zu einer rundum positiven Bewertung. Ich denke, dass ich mich wahrscheinlich auch bei 3 Sternen einpendeln werde. Man muss dem Autor zu Gute halten, dass er die Laufbahn der Schauspielern mit allem drum und dran perfekt wiedergeben hat.
 

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.880
12.560
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Mein Fazit fällt leider nicht besonders gut aus.
Die Geschichte von Carola Neher ist absolut erzählenswert. Ich hätte mich gefreut, wenn dieser biografische Roman dem literarischen Anspruch, den ich an Bücher aus dem Osburg Verlag habe und der auch durch die Cover-Gestaltung impliziert worden ist, gerecht geworden wäre. Doch leider würdigen eine dialoglastige Erzählweise, der übertriebene Einsatz stilistischer Mittel - damit meine ich Wiederholungen und gar zu offensichtliche Cliffhanger - sowie eine Detailverliebtheit bei der Schilderung von Oberflächlichkeiten die Geschichte der Carola Neher herab und gehen somit zu Lasten der literarischen Qualität.
Bei mir wird es 3 Sterne geben, was allein dem biografischen Aspekt zu verdanken ist.
 

luisa_loves-literature

Aktives Mitglied
9. Januar 2022
845
3.391
44
So, ich bin nach dem letzten Abschnitt tatsächlich auch wohlwollender als zuvor. Vielleicht hätte der Autor einfach nach Beendigung des Romans nochmal von vorne anfangen sollen. Da war er so schön im Flow. Ich mag grundsätzlich ja lieber Romane, die dann einigermaßen zufriedenstellend über die Ziellinie gebracht werden, als solche, die auf den letzten hundert Metern ins Stottern geraten und da der Roman das Ziel hier gut erreicht, bin ich noch einigermaßen versöhnt.
Allerdings werde ich die unnötige Langatmigkeit und auch wirklich nicht gute Schreibe der ersten drei Partien nicht so schnell ad acta legen können, sodass ich nochmal in mich gehen muss, ob ich es zu drei Sternen bringen kann - es sind realistisch eigentlich nur zwei, denn die ersten drei Viertel sind vom Aufbau, den dargestellten Szenen und den Dialogen her einfach sehr, sehr schwach. Eins hat der Roman geschafft: ich hätte schon Interesse mehr über die Neher zu erfahren und das ist ja immerhin auch schon mal etwas.