Fazit

Renie

Moderator
Teammitglied
19. Mai 2014
5.858
12.454
49
Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ich bin zwiegespalten.
Das Positive: sprachlich wieder großes Baldwin-Kino, sehr intensiv und mitreißend; Baldwin lässt uns durch "sein" New York wandeln, gerade diese Bilder vermitteln eine großartige Stimmung, die Kopfkino in den schillerndsten Farben präsentiert.
Das Negative: die Charaktere sind mir fremd geblieben. Ich habe verstanden, dass jeder über sich und sein Leben verzweifelt ist. Doch leider wurde mir nicht klar, worin diese Verzweiflung begründet ist. Leider gab es für mich auch keine Auflösung, was das Motiv für Rufus' Selbstmord angeht.
 

Xirxe

Bekanntes Mitglied
19. Februar 2017
1.629
3.496
49
Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Wie @Renie schon geschrieben hat, ist Baldwin ein grandios guter Beschreiber (hups, gibt es das Wort überhaupt?) - dieses New York der 60er Jahre hatte ich wirklich bildlich vor mir.
Doch im Gegensatz zu @Renie fand ich seine Charaktere sehr überzeugend und nachvollziehbar, so sehr, dass mir manche Reaktionen der heutigen Black Lives Matter-Bewegung wie auch der LSBTIQ-Szene wesentlich verständlicher sind als vor dem Lesen dieses Buches.
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.635
4.771
49
62
Essen
Das war für mich wieder mal ein Buch, bei dem mich der Klappentext in eine komplett falsche Richtung gesteuert hat und ich deshalb erstmal mit meinen Erwartungen zurechtkommen musste. Ich suchte lange nach der Geschichte von Rufus, der aber eben nicht oder nur indirekter im Fokus des Romans steht. Erst als ich mich dann auf die Geschichte der Freunde eingelassen habe, konnte ich dem Roman näher kommen. Wie gesagt: Das wäre ohne das Zutun des Verlags bestimmt wesentlich schneller gegangen und hätte die Lesefreude gesteigert.
In den Beziehungen und Freundschaften rund um Rufus, die den Großteil des Romans ausmachen, zeigt uns der Autor dann wohl vor allem, wie tief und diffus verwurzelt die Auswirkungen von Rassismus im amerikanischen Leben sind. Keine der Freundschaften, keine der Liebesgeschichten kommt an dem Thema vorbei. Immer spielt der Maß an Respekt und Achtung dem anderen gegenüber in Abhängigkeit von der Hautfarbe eine immense Rolle und überlagert alles, was an Gefühlen, Nähe und Bindungen da ist. Das beschreibt uns der Autor an Hand der Beziehungen unterschiedlicher Paarkonstellationen aus dem Freundeskreis von Rufus. Und es ist nicht verwunderlich, dass die einzige Beziehung, die davon etwas heraussticht und die auch am Ende als Hoffnungsschimmer den Roman beendet, die zwischen Eric und Yves ist, eine Beziehung, die sich nicht in der amerikanischen schwarz-weiß Umgebung entwickelt.
Ich habe diese Ausführungen des Autors sehr gern gelesen und konnte dabei gut in diese Welt eines liberalen, aber doch von der Frage der Hautfarbe geprägten Beziehungswelten eintauchen. und doch muss ich sagen, das mir das alles manchmal wirklich etwas übersensibel war. Die Beziehungen und Situationen werden immer wieder ungemein verkompliziert übermittelt, viele Gefühle werden hineininterpretiert, wo mir das unangemessen erscheint. Hier ein Beispiel:
Und sie war es, die ihn tröstete. Ihre langen Finger strichen über seinen Rücken, und er begann, langsam, mit einem schrecklichen Würgen, zu weinen, denn sie strich die Unschuld aus ihm heraus.
Bis zur Rezension lasse ich das noch etwas sacken und schaue, wie sich mein Eindruck zu dem Buch im Nachhinein entwickelt.
Danke Euch für die schöne Leserunde!
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
7.241
18.650
49
48
Soeben habe ich das Buch beendet und muss sagen: ein Kandiat für die "Top 10" dieses Jahr. Sprachlich teilweise sehr heftig, dann aber auch wieder wunderschön, teils philosophisch - definitiv ein 5*-Buch. Ich hoffe, dass ich noch vor meinem Urlaub ab Mitte nächster Woche meine Rezension fertig kriege. Wie @Anjuta danke auch ich für diese tolle Leserunde! :cool:
 

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Ich mag viel an dem Buch, die sehr intensiven Szenen des Begehrens, Baldwins äußerst scharfes Beobachtungs- und Beschreibungstalent, die essenzielle Frage: Wer wollen wir sein.

Dann wiederum war mir einiges zu dramtisch, pathetisch.

So viel Verzweiflung, Scham, Schuld und Zorn.. Ein Außenseiter schreibt über Außenseiter. Die Protagonisten haben von der Gesellschfaft zugewiesene Rollen, oder auch sich selber auferlegte Positionen. Sie treten auf der Stelle. Das ist ein anderes Land, in dem sie leben.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.241
49.147
49
Eigentlich könnte ich Renies Worte übernehmen.
Der Schreibstil an sich ist ohnegleichen: sehr intensiv, hemmungslos und direkt. Baldwin kann Gefühle unglaublich gut und glaubwürdig beschreiben, gerade auch Gefühle, die uns vielleicht fremd sind. Er zeigt ungeschönt auf, wie omnipräsent der Rassismus in den USA war, was er für Auswirkungen auf die Menschen verschiedener Hautfarbe hatte. Mit seinen Beschreibungen lässt er Harlem und NY vor unseren Augen auferstehen. Es lebe der Blues!

Für mich als weiße deutsche Leserin mit heterosexuellen Neigungen waren es der männlichen Befindlichkeiten aber trotzdem zu viele. Die Leute wissen einfach nicht, was sie wollen. Sie wissen nicht, wen sie lieben sollen, sie hüpfen ziemlich wahllos miteinander ins Bett (wir sind die Voyeure), ihre Gedanken springen hin und her. Sie suhlen sich in ihrer Verzweiflung, in ihrer Zerrissenheit. Immer wieder das Unverständnis zwischen Weißen und Schwarzen. Beschimpfungen, sehr drastisch.

Manche Passagen haben mich richtig gepackt. Dann wieder uferte die Gefühligkeit aus. Das Ganze hätte für mein Empfinden 150 bis 200 Seiten kürzer sein dürfen. Vieles drehte sich im Kreis, Vorwürfe wiederholten sich.

Zu welcher Wertung ich letzten Endes komme, kann ich euch beim besten Willen noch nicht sagen.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.291
10.419
49
49
Auch dieser Roman von Baldwin hat mir sehr gut gefallen. Die Sprache ist toll, aber mir gefällt auch, dass er sich aus Sicht der damaligen Zeit, mutig mit diesen Themen auseinander gesetzt hat.
Rufus und sein Freitod eben den Weg zu vielen Gewissenkonflikten der Freunde, ansonsten spielte er eine eher untergeordnete Rolle. Es gab Phasen, da habe ich während des Lesens ständig nach Verbindungen zu Rufus zu Rufus gesucht, im Nachhinein frage ich mich, ob Baldwin genau das bezwecken wollte. Man muss es nicht zum Thema machen um Thema zu sein.