FAZIT zu "Wintersturm"

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Wo liegen seine Stärken und Schwächen? Was gibt es zum Nachwort von William Boyle zu sagen?
Bitte gebt uns ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Am leichtesten kann ich etwas zum Nachwort sagen: Donnerschlag. Wucht und Kraft. /Da kann ich nicht mitgehen. Solche Worte hätte ich für "Ein anderer Takt" von William Melvin Kelly gefunden.
Ich empfinde die Konstruktion des Romans als simpel. Was sagt Boyle noch "alles Fett weggeschnitten", ja, das kann sein, aber das gerät dem Roman keineswegs zum Vorteil. Er glänzt nicht gerade durch Charakterstudien; die Frauenfiguren sind schematisch; fast beleidigend simpel.
Was ich aber sehr mochte, war, dass der Roman auf die Katastrophe zugeschnitten ist. Du erwartest eine Katastrophe, du bekommst eine Katastrophe.
Ich kann noch gar nicht genau sagen, warum der Roman bei mir trotzdem gepunktet hat. Das muss ich mir für die Rezension aufsparen. Vllt weil er nicht das normale Krimischema bedient, ja, vllt gerade deshalb.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Für mich wirkt der Roman insgesamt wie ein ambitionierter erster Versuch, aber er bleibt insgesamt noch etwas unausgegoren und ein bisschen nach Kochrezept geschrieben. Ich gebe @Wandablue vollkommen recht: die Figuren simpel bis stereotyp, bei Aaron habe ich den Eindruck, dass die Backstory gerade im letzten Teil wie ein Nachgedanke eingefügt wurde, um der Figur noch etwas mehr Profil zu verleihen, aber insgesamt passt gerade bei ihm alles nicht so recht zusammen.

Die Disbalancen im Erzählten finde ich ebenfalls etwas schwierig: Verlangsamung durch fast schon epische Breite und Perspektivenwechsel bei der Beschreibung ein und derselben Szene, detaillierte Berichte über Tamaras und Roberts Babyprojekt (nur um dann wieder völlig davon überrascht zu werden, wieviel Geld und Arbeit das Projekt tatsächlich gekostet hat, als es dann offenbar nicht sofort klappte - wie ich die ganze Zeit angenommen hatte.) Das erscheint mir wieder nicht so glaubhaft, da ein Baby für Tamara ja so gar nicht infrage kam am Anfang. Dazu Auslassungen und Andeutungen, wo ein gewisses deutlicheres Ausformulieren angebracht gewesen wäre.

Abschließend der moralische Kompass, der mir hier sehr einfach gestellt wird und leider mit Klischees arbeitet. Die didaktische Funktion ist klar erkennbar, Klischees und Vorurteile gegenüber Schwarzen werden umfassend entlarvt und aufgezeigt - gut so! Aber gleichzeitig wird in der Darstellung der weißen Figuren nur auf Stereotypen und Klischees zurückgegriffen. Diese im Verlauf des Romans umkommentiert zu lassen, empfinde ich als zu einfach, das ist der Kraft des Romans tatsächlich abträglich.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
19.450
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Für mich wirkt der Roman insgesamt wie ein ambitionierter erster Versuch,
Ich habe das Autoreninterview in der Gazette gelesen. Offenbar ist der Roman aus einer Drehbuchidee entstanden. Das würde zumindest für manche Verlangsamung, für die Partnerprobleme zwischen Tamara/Robert (Stichwort: Sexszene) eine Erklärung liefern. Vercher will gewiss kein großer Literat sein. Gerade in den USA trifft er mit dem Buch jedoch eine dauerhaft eiternde Wunde. Daher rühren die Auszeichnungen für das Buch.

Das Ende ist wie ein Donnerhall, laut und schmerzhaft. Manches bleibt ungesagt und ohne unsere Leserunde hier wäre mir bei weitem nicht alles aufgegangen.

Deine Expertise, Luisa, bringt die auch von mir ausgemachten Schwachstellen wunderbar konkret auf den Punkt. Wir lesen mittlerweile schon sehr kritisch. Der "normale" Leser von Krimis ist vielleicht viel zufriedener?

Ich werde wohl auf aufgerundete 4 (also 3,5) Sterne kommen. Das meiste hat schon gefesselt. Das Ende lässt Freiräume, so etwas mag ich an sich.
 

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Ich habe das Autoreninterview in der Gazette gelesen.
Das muss ich noch :)

Gerade in den USA trifft er mit dem Buch jedoch eine dauerhaft eiternde Wunde.
Auf jeden Fall und wichtig!
Das Ende lässt Freiräume, so etwas mag ich an sich.
Ich auch - ich schätze es, wenn man sich als Leser frei entfalten darf bzw. gefordert wird.

Bei mir läuft es vermutlich auf drei Sterne hinaus. Ich formuliere gerade meine Rezension: der Roman nimmt für mich immer wieder wirklich schön Anlauf, aber dann stottert der Motor wieder. Es passt noch nicht ganz zusammen...
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Der Roman hat mir gut gefallen, und ist es sicher auch wert weiträumig Anklang zu finden. Die Lobeshymne empfinde ich als ein wenig überzogen, allerdings sind wir hier in Deutschland und einiges was wir im Roman erleben, hier ja zum Glück nicht an der Tagesordnung. Vielleicht sieht man den Roman als Amerikaner mit anderen Augen.
Warum die Kategorisierung Krimi stattgefunden hat, verstehe ich nach wie vor nicht. Aber das hat mich beim lesen im Grunde gar nicht so sehr interessiert, die Geschichte nahm mich gefangen. Im Vordergrund stand immer Bobby, und natürlich sein Freund Aaron.
 

Renie

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19. Mai 2014
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Essen
renies-lesetagebuch.blogspot.de
Das war mal wieder ein ungewöhnlicher Krimi aus dem Polar Verlag. Das Verbrechen wird zum Ereignis am Rande und im Mittelpunkt steht das Thema Hautfarbe bzw. Rassismus. Ich mochte das anfängliche Verwirrspiel des Autors bezüglich der Hautfarben seiner Protagonisten. Das hat mir mal wieder vor Augen geführt, wie unbewusst wichtig mir diese Klassifizierung ist, auch wenn ich mich selbstverständlich vom Rassismus distanziere. Eigentlich dürfte die Frage nach der Hautfarbe überhaupt nicht aufkommen, die Hautfarbe dürfte bei einem modernen und vernünftigem Menschen keine Rolle spielen. Dennoch tut sie es, und ich frage mich, warum.

Insgesamt habe ich diesen Krimi gern und mit Interesse gelesen. Mich hat auch nicht gestört, dass dieser Krimi so wenig Krimi ist. Mit dem Ende hat der Autor zwar wieder die Kurve gekriegt, aber dennoch steht für mich klar das Thema Rassismus im Fokus. Die inneren Kämpfe, die die Protagonisten mit sich ausgetragen haben, haben für ausreichend Spannung gesorgt, so dass mir der Krimi-Thrill nicht gefehlt hat.

Gestört hat mich die Anhäufung gesellschaftskritischer Themen. Es gab ja kaum etwas, was der Autor nicht ins Gespräch gebracht hat. Diesen Rundumschlag hätte ich nicht gebraucht. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Das hat mir mal wieder vor Augen geführt, wie unbewusst wichtig mir diese Klassifizierung ist, auch wenn ich mich selbstverständlich vom Rassismus distanziere. Eigentlich dürfte die Frage nach der Hautfarbe überhaupt nicht aufkommen, die Hautfarbe dürfte bei einem modernen und vernünftigem Menschen keine Rolle spielen.
Aber das ist doch das Thema überhaupt in USA.
 
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Wandablue

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Kann sein, dass ich dich nicht verstehe, Renie. Sorry. Aber wir mussten uns nur deshalb in dem Roman mit der Hautfarbe beschäftigen, weil es den Protagonisten wichtig war - nicht uns.
 
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29. März 2022
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Mainz
Mit etwas Abstand schaue ich noch einmal auf die Lektüre zurück.
Dass es kien klassischer Krimi ist, stört mich nicht. Sicherlich hat Aarons Gewalttat zu dieser Einstufung geführt. Im Kern ist es aber ein Buch über Rassismus und die Wirkmächtigkeit von Hautfarbe in manchen Regionen der Welt. Es ist die Tragödie mancher Protagonisten, dass sie ihre Identität davon nicht bestimmen lassen wollen, es verdrängen. Letztlich werden sie von der harten Wirklichkeit eingeholt.
Nicht neu der Stoff, aber insgesamt habe ich die Geschichte dennoch gerne gelesen.