FAZIT zu: "Was es braucht in der Nacht"

Literaturhexle

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2. April 2017
19.488
50.100
49
Wie hat euch der Roman als Ganzes gefallen? Bitte schreibt ein spontanes Fazit in ein paar Sätzen.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
2.271
10.711
49
Thüringen
Mich hat dieser Roman positiv beeindruckt. Vor allem ist es meines Erachtens Petitmangin gelungen die Spaltung einer Familie ebenso darzustellen wie die gesamtgesellschaftliche Spaltung, die immer stärker in den vergangenen Jahren wahrzunehmen war. Und dabei ist es nebensächlich, ob dies in Frankreich oder Deutschland verortet ist. Und neben der Spaltung zeigt er den Versuch auf, ab einem bestimmten Punkt doch zusammenzuhalten, was nicht zusammenzuhalten geht. Wer selbst diese politische Spaltung innerhalb der eigenen Familie erlebt, wird zustimmen, dass der Sohn trotzdem noch der Sohn bleibt, der Bruder trotzdem noch der Bruder ist, mit dem einen die eigene Geschichte verbindet, positive wie negative Erlebnisse und Erinnerungen. Das geht nicht abzuschalten. Dieses nah an den Personen sein und gleichzeitig einen Blick für die Gesellschaft zu haben, ist dem Autor sehr gut gelungen.
Einen kleinen Kritikpunkt habe ich allerdings: Hat mich auf den ersten 50 Seiten die Formulierung "die Mutti" schon gestört, allein schon aufgrund des ständigen Auftauchens, so hat es mich noch viel stärker gestört, wenn diese Formulierung auf den letzten 100 Seiten auftauchte. Auf den ersten Seite hätte ich es noch dem zuschreiben können, dass zu dieser Zeit der Schilderungen des Vaters die Kinder noch klein sind und er auf das Kosewort zurückgreift. Wenn sie dann aber mittlerweile erwachsen sind und mitten in tiefgreifenden Überlegungen plötzlich "die Mutti" auftauchte, sträubten sich bei mir jedes Mal die Nackenhaare und ich war aus dem "Flow" geworfen. Wirklich eine merkwürdige Übersetzungsentscheidung.
 

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.651
12.957
49
47
Der Roman ist besonders. Er gibt einem Mann aus dem Arbeitermilieu eine authentische Stimme, die gleichermaßen zärtlich wie schroff ist. Das gibt es glaube ich noch nicht so oft. Er ist von einem Mann geschrieben worden, der selbst in einer Eisenbahnerfamilie aufgewachsen ist. Wow.

Es ist die Geschichte eines Mannes, der völlig auf sich allein gestellt einen rein männlichen Haushalt, eine Familie ohne Frau führen muss und trotz aller Bemühungen daran scheitert. Das ist herzzerreißend.

Das Buch stellt Fragen und regt zum Nachdenken und Diskutieren an. Wie reagiert man als Elternteil, wenn sich das Kind nicht so entwickelt, wie man es eigentlich erzogen hat. Wie weit geht man für das Kind? Was sind die Folgen einer Kindheit, in der die Kinder zu früh erwachsen werden müssen? Welche Folgen hat es, wenn Menschen (hier: Männer) nicht über ihre Wut, ihre Trauer sprechen (können)?

Kleines Buch, so viel Wirkung: Ich bin beeindruckt.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.642
16.702
49
Rhönrand bei Fulda
Der Roman ist besonders. Er gibt einem Mann aus dem Arbeitermilieu eine authentische Stimme, die gleichermaßen zärtlich wie schroff ist. Das gibt es glaube ich noch nicht so oft. Er ist von einem Mann geschrieben worden, der selbst in einer Eisenbahnerfamilie aufgewachsen ist. Wow.

Es ist die Geschichte eines Mannes, der völlig auf sich allein gestellt einen rein männlichen Haushalt, eine Familie ohne Frau führen muss und trotz aller Bemühungen daran scheitert. Das ist herzzerreißend.

Das Buch stellt Fragen und regt zum Nachdenken und Diskutieren an. Wie reagiert man als Elternteil, wenn sich das Kind nicht so entwickelt, wie man es eigentlich erzogen hat. Wie weit geht man für das Kind? Was sind die Folgen einer Kindheit, in der die Kinder zu früh erwachsen werden müssen? Welche Folgen hat es, wenn Menschen (hier: Männer) nicht über ihre Wut, ihre Trauer sprechen (können)?

Kleines Buch, so viel Wirkung: Ich bin beeindruckt.
Du bringst das sehr gut auf den Punkt. Ich denke seit gestern über meine Rezension nach und möchte auf jeden Fall herausstreichen, dass der Autor mit der Wahl dieses Ich-Erzählers Mut bewiesen hat.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
2.743
9.827
49
Ich muss zugeben, dass mich die volle Wirkung dieses Buches erst mit etwas Abstand erreicht hat. Simple Sprache, (für mich) fremdes Land, dessen Gegebenheiten sich mir nicht sofort erschlossen haben (Afrika und China wären mir aber noch schwerer gefallen) und Sprünge in der Geschichte, die mich zunächst geärgert haben. Zudem ist der Erzähler noch ein Mann, dem ich mit meinem kritischen Mutterherz sehr genau auf die (Erziehungs-)Finger geschaut habe.
Die Gelassenheit für die Art der Erzählung hat sich erst mit dem Zuklappen des Buches eingestellt und schon waren auch die vielen "Muttis" und die provozierende Sprachlosigkeit des Vaters vergessen.
Diese 160 Seiten fordern ihre Zeit und vielleicht auch eine Zweitlektüre, aber mindestens eine Nacht vor einer Rezension, denn so hat sich bei mir dann doch der fehlende Stern eingefunden.
 
Zuletzt bearbeitet:

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.642
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Rhönrand bei Fulda
Ich wollte eigentlich für dieses Buch, bei dem ich wirklich keinen Spaß hatte, nicht allzuviel Punkte aus dem Hut ziehen. Aber je länger man darüber nachdenkt und es sacken lässt, um so mehr bekommt es - Grund, Holz, Kern oder wie man das immer nennen will. Ich tue mich schwer mit der Rezension. Das Buch ist wichtig und bietet jede Menge Diskussions- und Nachdenkstoff, aber eine Lesefreude ist es nicht. Jedenfalls für mich nicht. Ich werde wohl vier Punkte geben und plage mich noch mit meinen Formulierungen herum; man will ja von der eigentlichen Katastrophenkette mit anschließenden Wendungen im Denken des Erzählers nichts verraten, andererseits macht das aber wichtige Aspekte bei der Bewertung aus.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.642
16.702
49
Rhönrand bei Fulda
Ich plage mich seit Tagen mit der Rezi und habe sie jetzt hochgeladen.

Besser wird's nicht mehr. Das Problem ist, ich erkenne an, dass es ein wichtiges und gutes Buch ist (ich habe es in den letzten zwei Tagen ein zweites Mal komplett gelesen), aber nicht wirklich das, was ich gerne lese. Es liegt mehr an der "Machart" als am Thema, aber woran es genau liegt, könnte ich nicht mal sagen.
 

Barbara62

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19. März 2020
3.898
14.937
49
Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
Ich werde in den nächsten Tagen vermutlich auch eine Rezension mit 4 Sternen schreiben, wenn sich beim zweiten (Quer-)Lesen nicht noch ein ganz neuer Aspekt ergibt. Ich habe das Buch gern gelesen, kann es auch empfehlen, es gibt eindeutig interessante Denkanstöße, aber ein 5-Sterne-Buch ist es für mich nicht. Das letzte Drittel mit der abrupten Wendung des Vaters und dem etwas überstürzten Schluss hätte noch Potential nach oben gehabt. Der Stil passt zum Eisenbahnmonteur, hat aber nicht so wirklich Spaß gemacht. Trotzdem: ein wichtiges Buch und brandaktuell zur Wahl am nächsten Sonntag.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
4.355
10.667
49
49
Die volle Punktzahl wird es bei mir nicht werden, 4 schweben mir zur Zeit vor.
Ich hatte oft Probleme mit der Art des Vater, das hat mich oft ein wenig geärgert. Doch es passt zur Handlung, denn diesen Drahtseilakt hätte der Autor anders wohl nicht so gut darstellen können.
Das Ende nehme ich ihm auch ein wenig übel, da ich mich in diesem Fall um das wichtigste betrogen gefühlt habe. Ich wollte wissen, wie es Fus am Ende seiner Haftstrafe ergeht. Auch die Emotionen des Vaters und des Bruders zu dieser Entscheidung im. Rief werden nicht deutlich, dabei war das doch immer zentral.
Doch trotz dieser Kritikpunkte bringe ich dem Werk viel Respekt entgegen, da ich glaube, dem Autor war bewusst welche Gefühle er im Leser auslösen wird. Er hat es geschafft, dass ich mich gedanklich lange damit auseinandergesetzt habe.

Jetzt muss ich das nur noch irgendwie zu einer Rezension verarbeiten.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.642
16.702
49
Rhönrand bei Fulda
Ich wollte wissen, wie es Fus am Ende seiner Haftstrafe ergeht.
Mich hätte auch sehr interessiert, ob und wieweit er sich von seinen Verletzungen erholt. Für die Überlegung, ob er vielleicht die Absicht hat, Söldner zu werden wäre das ja wichtig. Es ist gar nicht mehr die Rede davon, ob er im Knast noch therapiert wird, als würde das den Erzähler nicht weiter interessieren. Das habe ich ihm auch etwas übel genommen ...
 

Literaturhexle

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2. April 2017
19.488
50.100
49
Die Sache mit dem Söldner/Legionär ist doch eh der Fantasie in unseren Reihen entsprungen. Dafür sehe ich keine Anhaltspunkte. So ein junger Kerl gehörte therapiert (man denke an "Alphabet").
Der Autor wollte das Buch bewusst mit diesem Paukenschlag von Brief beenden. Dadurch bleiben Fragen bewusst offen. Der Vater hat ja auch Kathryna zum Abbruch des Kontaks gedrängt. Fus schreibt jetzt, sie habe sich nach langer Zeit wieder gemeldet...
Warum? Wieso ist das an dieser Stelle wichtig? Nein, das Ende hat keine Medaille verdient.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
2.651
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Fus schreibt jetzt, sie habe sich nach langer Zeit wieder gemeldet...
Warum? Wieso ist das an dieser Stelle wichtig?
Weil es die Tragik um Fus in meinen Augen noch deutlicher macht. Die Frau, die ihn offenbar entscheidend beeinflusst hat, als es um seine Rache ging und die ohne sein Wissen das gemeinsame Baby abgetrieben hat, bricht zunächst den Kontakt völlig ab und meldet sich in einer Situation, in der er endgültig Abschied nehmen möchte. Das ist sehr traurig.

Nein, das Ende hat keine Medaille verdient.
Platin für mich ;).
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.642
16.702
49
Rhönrand bei Fulda
Weil es die Tragik um Fus in meinen Augen noch deutlicher macht. Die Frau, die ihn offenbar entscheidend beeinflusst hat, als es um seine Rache ging und die ohne sein Wissen das gemeinsame Baby abgetrieben hat, bricht zunächst den Kontakt völlig ab und meldet sich in einer Situation, in der er endgültig Abschied nehmen möchte. Das ist sehr traurig.


Platin für mich ;).
Aber wenn du das Ende als Suizidankündigung deutest, was sagt uns dann der Satz "Der Abstand wird uns gut tun"? Wenn jemand weiß, dass er in Kürze nicht mehr lebt, sagt er doch nicht "das wird mir gut tun".
Jetzt wollte ich, ich hätte das Original vorliegen ...
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Wenn jemand weiß, dass er in Kürze nicht mehr lebt, sagt er doch nicht "das wird mir gut tun".
Ja, das ist etwas seltsam, aber vielleicht auch nur verklausuliert. In Fus' Augen wird es der Familie guttun, den Kontakt mit ihm, dem Mörder, abzubrechen. Und ihm selbst wird es guttun, weil es ihn nicht mehr belastet und er mit sich und seinem Suizid im Reinen ist.

Nahezu alle anderen Punkte sprechen aber für einen Suizid. Denn zu der Verlegung wird es ja offenbar nicht kommen, und der Schluss "es war ein gutes Leben" ist in meinen Augen wirklich gar nicht mehr anders zu deuten. Anderenfalls würde sein Leben nach dem Gefängnis ja in drei Jahren weitergehen...
 

Literaturhexle

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2. April 2017
19.488
50.100
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Aus meiner Sicht ist diese Uneindeutigkeit gewollt, weil sie mehr Tiefe suggeriert. Zunächst von Verlegung und Abstand, anschließend vom endgültigen Abschied zu sprechen... Das passt nicht.
Ich bin ziemlich sicher, dass uns auch der Originaltext nicht weiter bringen würde. Einen solch elementaren Fehler traue ich keinem dtv-Profi zu.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
4.642
16.702
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Rhönrand bei Fulda
Es spricht sicher vieles dafür ...
Ich habe selbst beobachten können (zum Glück nicht in meiner eigenen Familie, aber in einer befreundeten), was der Suizid eines jungen Familienmitglieds für die anderen bedeutet.
Das ist eine unsägliche Katastrophe, und dass so etwas den Zurückgebliebenen "gut tut", redet man sich vielleicht gern ein, aber es ist Unsinn und funktioniert nicht. Im Fall von Fus, der immerhin von seinem Bruder geliebt wird - und vom Vater sicher auch, auch wenn er es gerade nicht richtig wahrhaben will - wird es auch nicht funktionieren. Wie gesagt, es spricht wohl viel dafür, dass es so ist, aber ich mag es nicht wahrhaben ...
 

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
19.488
50.100
49
was der Suizid eines jungen Familienmitglieds für die anderen bedeutet.
Das ist eine unsägliche Katastrophe, und dass so etwas den Zurückgebliebenen "gut tut", r
Genau das habe ich bei der Erstlektüre des Briefes auch gedacht. Schön, dass du es nochmal erwähnst!
Ein Suizid ist im Grunde eine verdammt egoistische Angelegenheit, die die Angehörigen immer mit Schuld, schlechtem Gewissen, offenen Fragen alleine lässt. Dass sich das ein potentieller Selbstmörder natürlich schön redet in seiner Depression, ist auch klar. Der Brief wirkt für mich nicht authentisch.
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.642
16.702
49
Rhönrand bei Fulda
Da es mir keine Ruhe lässt, habe ich mehrere französische Literaturseiten mit den Suchworten "explication de la fin" durchsucht.
Ein Beispiel, das ich gefunden habe (rtbf.be, eine belgische Seite):

"Das herzzerreißende, schöne, liebevolle Ende wird Sie in Tränen ausbrechen lassen, bewegt von der Größe eines Mannes, der seinen freien Willen zurückerobert ."

Das ist nun nochmal was ganz anderes, als ich aus dem Ende herauslese.
Besser, ich gebe die Suche auf ...